Die Kunst der konstruktiven Kritik

Unserem kleinen Biber schwirrt der Kopf vor lauter Kritik! Zum Glück bemühen sich seine Eltern und seine Lehrerin mehr und mehr um konstruktive Rückmeldungen:

Die Tipps im Film, die wir hier noch etwas genauer beschreiben, können Ihnen dabei helfen, Ihre Kritik so vorzubringen, dass Ihr Kind:

  • Ihnen eher zuhört
  • Ihrem Wunsch oder Ihrer Aufforderung eher nachkommt
  • Aktiv an einer Lösung mitwirkt
  • Selbstvertrauen entwickelt, indem es von Ihnen lernt, wie man in Konfliktsituationen reagiert, gemeinsam mit anderen nach Lösungen sucht und seine Meinung konstruktiv vertritt
  • Sein Selbstwertgefühl nicht in Gefahr sieht, wenn es einen „Fehler“ gemacht hat und sich dadurch nicht verteidigen muss

Wir sind bei der Sammlung unserer Tipps davon ausgegangen, dass Sie wahrscheinlich die Grundregeln der konstruktiven Kritik bereits kennen – wie das Senden von Ich-Botschaften, der Kritik des Verhaltens anstatt der Person oder den Rat, zunächst positive Punkte hervorzuheben, bevor auf negative eingegangen wird. Wir gehen daher bewusst auf Punkte ein, die weniger bekannt sind.

Verbinden Sie Ihre Kritik mit einem Wunsch

„Musst du immer…?“, „Jetzt hast du schon wieder…“ – oft bezieht sich unsere Kritik auf Vergangenes, auf das, was das Kind getan oder unterlassen hat.

Es fällt uns sehr viel leichter, auf Kritik einzugehen, wenn der Fokus auf der Zukunft und einer positiven Entwicklung liegt und wir mit unseren Kindern mehr über unsere Wünsche sprechen. Die Zauberformel lautet:

…ich fände es schön, wenn du nächstes Mal…

Statt: „Jetzt hast du schon wieder dein Zeug auf dem Esstisch liegen lassen!“

Könnte man sagen:

„Sebastian, ich kann den Tisch nicht decken, wenn du deine Spielsachen darauf liegen lässt. Räum sie bitte weg. Ich fände es schön, wenn du sie morgen gleich auf diesen Tisch hier legst, dann darfst du sie auch liegen lassen.“

Statt: „Musst du jeden Tag so ein Drama machen, bevor du endlich ins Bett gehst?“

Könnte man sagen:

„Weisst du was ich echt toll fände? Wenn du morgen einfach die Zähne putzt, ohne dass ich dich daran erinnern muss und dann schnell ins Bett gehst, damit es noch für die Geschichte reicht.“

negative Kritik

Verbinden Sie Ihre Kritik mit einer Frage und laden Sie Ihr Kind zum Nachdenken ein

Kinder merken oft nicht, wenn sie stören. Sie toben im Wohnzimmer herum, wenn man konzentriert an etwas arbeiten möchte, stellen Fragen, während man telefoniert oder hören in einer Lautstärke Musik, die richtig nerven kann.

In diesen Situationen warten wir oft, bis es uns innerlich zerreisst. Gedanken wie „es kann doch nicht sein, dass der das nicht merkt!“, „macht sie das eigentlich absichtlich?!“ oder „wie soll ich mich bei diesem Höllenkrach konzentrieren können?“ schiessen uns durch den Kopf, bis wir explodieren und unsere Kind anschreien oder grob zurechtweisen.

Kinder sind sich jedoch oft nicht bewusst, dass sie stören. Sie selbst können sich vielleicht ganz gut bei Lärm konzentrieren oder wissen gar nicht, weshalb Konzentration so wichtig sein sollte. Sie haben Fragen, die sie brennend interessieren oder etwas, das sie unbedingt erzählen müssen und können nicht verstehen, weshalb man nicht kurz antworten kann, während man telefoniert.

Kinder sind aus diesem Grund oft überrascht, wenn wir plötzlich harsch reagieren.

In solchen Situationen ist es hilfreich, wenn Sie auf Ihre Gefühle achten, früh reagieren und Ihre Kinder durch Fragen dazu anregen, eine für alle passende Lösung zu finden.

Anstatt abzuwarten, immer wütender zu werden und dann zu schreien, könnte man bereits zu Beginn sagen: „Hey Jungs, ich muss hier in den nächsten zwei Stunden eine wichtige Arbeit erledigen und ich möchte, dass es in diesem Raum absolut still ist. Was könntet ihr alles tun, damit ihr euren Spass habt und ich meine Ruhe?

Versuchen Sie den Standpunkt des Kindes nachzuvollziehen und suchen Sie gemeinsam nach Alternativen

Schon wieder hat Tobias seinen kleineren Bruder gehauen. Die Eltern können sein Verhalten nicht verstehen und erklären ihm schon zum x-ten Male, dass es Tim weh tut und er traurig ist, wenn er geschlagen wird.

Doch warum hat Tobias seinen Bruder geschlagen? Weil Tim ohne Erlaubnis mit seinem Flugzeugmodell gespielt und dabei einen Flügel abgebrochen hat.

Tobias kann die Erklärung seiner Eltern, dass es Tim weh tut und er traurig ist, wenn er geschlagen wird, durchaus nachvollziehen. Nur: Genau darum ging es doch! Tobias war wütend, weil Tim sein mühsam zusammengesetztes Modell zerstört hat und er wollte ihn dafür bestrafen – einerseits, um seinem Ärger Luft zu machen und andererseits, um diesen daran zu hindern, so etwas wieder zu tun.

Nun können die Eltern solch ein Verhalten natürlich nicht tolerieren. Nur wird es deutlich wahrscheinlicher, dass Tobias in Zukunft anders mit Tim umgehen wird, wenn er sich in seinem Ärger verstanden fühlt und weiss, wie er reagieren kann, wenn diese Situation das nächste Mal auftaucht.

Ein Gespräch zwischen Tobias und seinem Vater könnte beispielsweise folgendermassen aussehen:

Vater: Tobias, warum hast du Tim geschlagen?

Tobias: Er hat einfach mein Flugzeug genommen und es kaputt gemacht!

Vater: Ja…das hat dich sicher wütend gemacht…zeig mal…kriegen wir das wieder hin?

Tobias: Vielleicht können wir den Flügel wieder ankleben…

Vater: Ja, lass uns das versuchen. Weisst du Tobias, ich kann verstehen, wie sehr dich das ärgert, aber du weisst, wie ich das finde, wenn du Tim schlägst. Was könntest du denn tun, damit Tim deine Sachen nicht nimmt?

Tobias: Ich könnte mein Zimmer abschliessen.

Vater: Ja…und was noch?

Tobias: Ich könnte die Modelle und andere Sachen, die leicht kaputt gehen, aufs obere Regal stellen, damit er nicht ran kommt.

Vater: Ja…wie könntest du reagieren, wenn er trotzdem mal etwas nimmt?

Tobias: Er soll das einfach nicht tun!

Vater: Tim ist erst 2 – meinst du, er versteht schon, dass er deine Sachen nicht nehmen darf?

Tobias: Vielleicht nicht. Vielleicht muss ich mehr aufpassen…

Vater: Das fände ich schön. Und wenn er trotzdem mal etwas kaputt macht, dann kommst du einfach zu mir und wir schauen, ob wir es reparieren können – und falls nicht, bin ich auch bereit, dir ein Neues zu kaufen.

Der Vater bemüht sich in diesem Beispiel, zunächst Tobias Gefühle und seine Handlung zu verstehen. Gemeinsam suchen sie nach Lösungen. Schliesslich ist Tobias auch bereit, sich Gedanken über seinen Bruder zu machen – und sieht ein, dass Tim noch zu klein ist, um zu verstehen, dass er seine Sachen nicht nehmen darf.

Orientieren Sie sich an der Lerngeschwindigkeit des Kindes und bleiben Sie beharrlich

Bei Lehrkräften und Eltern sehen wir immer wieder, dass viel zu viele unterschiedliche Rückmeldungen gegeben werden. Jetzt setz dich mal hin! Lass das! Musst du immer…? Ich habe dir doch schon x Mal gesagt…“ Auf viele Kinder prasselt ein wahres Feuerwerk an Anweisungen nieder. Wie die Berieselung mit lästiger Hintergrundmusik in einem Kaufhaus oder Café wird dieser stetige Strom mit der Zeit von den Kindern einfach ausgeblendet.

Aber nicht nur ein Schwall an Anweisungen, sondern auch zu viele wohlgemeinte Verbesserungsvorschläge sind nicht fruchtbar.

Als ich mit meiner Frau einen Tango-Kurs besuchte, kam der Lehrer alle 5 Minuten vorbei und gab uns jeweils ein ganzes Paket an Rückmeldungen: „Den Rücken gerade halten… die Hand höher, hier…und die Schultern und das Becken mehr abdrehen…nein nicht so! Die Wirbelsäule bleibt gerade! Du musst mit dem Körper führen, nicht einfach am Arm ziehen!“ Als ich nichts davon auf die Reihe bekam, wurden seine Kommentare immer genervter. Meiner Frau ging es nur einen Monat darauf genau gleich mit ihrem Fahrlehrer. Beide wurden ausgewechselt…

Kein Mensch kann auf sieben Dinge gleichzeitig achten. Dennoch fühlen wir uns oft verpflichtet, alles zurückzumelden, was wir als verbesserungswürdig einstufen. Die Folge ist, dass zwar viel Verbesserungspotential aufgezeigt, aber wenig gelernt wird.

Fortschritte würden sich viel schneller einstellen, wenn sich die Rückmeldungen auf einen wichtigen Punkt fokussieren, der solange eingeübt wird, bis er sitzt. Dann erst wird ein weiterer Punkt aufgegriffen. So könnte sich ein Tanzlehrer zunächst beispielsweise auf den Punkt des „Führens mit dem ganzen Körper“ konzentrieren und dazu regelmässig Feedback geben. Das könnte dann so klingen: „Beim Führen ist es wichtig, dass du sie mit dem ganzen Körper führst, nicht einfach mit dem Arm. Schau mal…ich zeig es dir…so – du drehst also mit dem Becken und dem ganzen Körper, bis sich die Bewegung auf sie überträgt. Lass mich dich mal führen, dann merkst du, wie unterschiedlich es sich für die Partnerin anfühlt. Schau…jetzt führe ich mit dem ganzen Körper…jetzt nur mit dem Arm…merkst du den Unterschied?…Macht mal weiter….ja – genau, viel besser…jetzt hast du wieder mehr mit dem Arm geführt, hast du es gemerkt?…Ja so…Maya, kannst du heute darauf achten, ob Fabian mit dem Arm oder mit dem ganzen Körper führt und es ihm jeweils gleich sagen, wenn er mit dem Arm führt?“

Indem sich nun beide Partner auf einen Punkt konzentrieren und die Rückmeldungen konstant und schnell erfolgen, sobald der Fehler auftaucht, entwickelt sich schon bald ein Gefühl für „richtiges“ und „falsches“ Führen.

Immer wenn etwas Komplexes gelernt werden soll, lernen wir viel schneller, wenn sich die Rückmeldungen auf einen engen Bereich beziehen. Als Eltern, Lehrperson oder Trainer/in kann man sich die Frage stellen:

  • Worauf sollen sich meine Rückmeldungen heute / diese Woche beziehen?

Dieser Bereich rückt ins Zentrum, während andere Bereiche vorübergehend vernachlässigt werden. Im ausgewählten Bereich wird dafür häufig und schnell zurückgemeldet.

Genauso können Sie auch beim Erlernen der Regeln zur konstruktiven Kritik vorgehen: Nehmen Sie sich nicht vor, auf alle Punkte gleichzeitig zu achten, sondern nehmen sie sich einen Punkt vor, der Ihnen besonders wichtig erscheint und üben Sie diesen, bis er in „Fleisch und Blut“ übergeht. Ihr Partner oder Ihre Partnerin kann Sie jeweils darauf hinweisen, wenn Sie in alte Muster fallen und Sie selbst können am Abend kurz überlegen, ob es heute gut geklappt hat.

Zu guter Letzt: Manchmal sind wir einfach so blöd

Manchmal erwischt man sich beim Satz: „Sag mal: Bist du so blöd oder machst du das absichtlich?“

Dazu ein eigenes Beispiel:

Wir hatten uns eine teure elektrische Zahnbürste gekauft. Meine Frau wies mich mehrmals darauf hin, dass ich sie nach Gebrauch zurück auf die Station stellen muss und nicht einfach aufs Spülbecken. Dort lag sie nämlich im Wasser wodurch sie laut Verpackung kaputt gehen könnte. Was natürlich auch passierte 🙁

Wir haben also eine neue gekauft und meine Frau meinte: „Fabian: Diese lässt du echt nicht mehr auf dem Spülbecken stehen. Die war teuer und die erste ist deinetwegen schon kaputt gegangen. Also stell sie bitte auf die Station!“

Zwei Tage später meinte sie: „Fabian – echt! Kannst du sie nicht auf die Station stellen? Das nervt total – die geht auch noch kaputt.“

Eine Woche später haben wir dann eingeführt, dass ich jedes Mal 2 Franken Busse bezahlen muss, wenn ich sie nicht auf die Station stelle.

Es hat mich tatsächlich über Fr.50.- gekostet, bis ich es trotz bester Absichten endlich hingekriegt habe. Klarer Fall von „tatsächlich so blöd“.

Manchmal haben wir aus irgendeinem unerfindlichen Grund grösste Mühe damit, etwas scheinbar Banales zu lernen – trotz bester Absichten. Es hilft, wenn man mit dem Kind überlegt, wie es sich selbst daran erinnern könnte – und trotzdem geduldig bleibt und sich bewusst ist, dass wir alle manchmal „echt blöd“ sind.

Die einzelnen Punkte im Überblick

Ihr Kind kann Ihre Kritik eher annehmen und wird sein Verhalten eher ändern, wenn Sie:

  • Lösungen für morgen suchen anstatt auf den Fehlern von gestern herumzureiten
  • Es durch Fragen in den Lösungsprozess einbinden, anstatt lediglich Anweisungen oder Erklärungen abzugeben
  • Eher wenig kritisieren, dafür bei wichtigen Punkten beharrlich bleiben und konstant Rückmeldungen geben
  • Verständnis haben, wenn es manchmal viel Zeit braucht, bis Ihr Kind etwas bestimmtes lernt

Aktuell: Unser neues Buch ist da!

In unserem neuen Buch „Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden“ erfahren Sie mehr darüber, wie Sie die Selbstwirksamkeit und das Selbstvertrauen Ihres Kindes im Alltag stärken können. Jetzt bestellen – in Ihrer Lieblingsbuchhandlung oder online bei Amazon oder Orell Füssli Schweiz.


Unsere Bücher für Schüler/innen und Studierende

 

Für Eltern

 

Für Coaches