Bei Mobbing geht es nicht um Schuld – sondern um Verantwortung

Bei Gesprächen rund um Mobbing steht meist die Schuldfrage im Zentrum. Dabei gibt es keine nutzlosere Frage als diese und zwar aus mehreren Gründen:

Erstens ist es bei Mobbing meist nicht möglich, eindeutige Schuldzuweisungen vorzunehmen. Mobbing geschieht meist versteckt – auf dem Pausenplatz, dem WC, dem Schulweg. Berichtet das betroffene Kind von einem Vorfall, steht meist Aussage gegen Aussage. Dabei werden die Akteure meist von anderen Kindern gedeckt. Die Lehrperson muss sich nun entscheiden, wem sie Glauben schenken will. Dabei ist es nur natürlich, dass es ihr widerstrebt, eine Strafe auszusprechen, wenn sie die Tat selbst nicht beobachten konnte und verschiedene Berichte hört.

Zweitens sind die einzelnen Handlungen der Akteure und Mitläufer oft nicht strafbar. Wie bestraft man ein Augenrollen? Wie soll man vorgehen, wenn alle Kinder ausser eines an die Geburtstagsparty eingeladen werden? Soll man jede Hänselei, die ein bestimmtes Kind betrifft, bestrafen? Oft sind die einzelnen Aktionen gegen das betroffene Kind nicht gravierend. Sie sind deshalb kaum zu ertragen, weil sie häufig, über längere Zeit und systematisch gegen ein bestimmtes Kind gerichtet sind. Diesem Kind wird über viele, von aussen teilweise unscheinbare Handlungen zu verstehen gegeben: Du gehörst nicht dazu! Wir hassen dich und werden dir das Leben zur Hölle machen.

Drittens werden oft die Falschen bestraft. Es fällt geschickten Akteuren relativ leicht, so lange und subtil auf den wunden Punkten des betroffenen Kindes herumzuhacken, bis dieses explodiert und sich wehrt. Die Lehrperson sieht oft nur diese heftige Reaktion. Schlägt das Kind, das über Wochen hinweg drangsaliert wurde, schliesslich zu, hat es etwas getan, das aus Sicht der Lehrperson bestraft werden muss. Erklärungen des betroffenen Kindes werden in der Folge oft mit dem Satz „das ist noch lange kein Grund gleich zuzuschlagen“ abgetan.Hase_und_biber_streich

Viertens führt die Suche nach den Schuldigen und deren Bestrafung oft dazu, dass sich die Akteure nach der Strafe am Opfer rächen. Dazu können sie wiederum auf viele Mobbing-Möglichkeiten zurückgreifen, die kaum aufgedeckt oder bestraft werden können. Kinder wissen dies und hüten sich deshalb davor, Eltern und Lehrpersonen von ihrer Situation zu erzählen.

Fünftens wird die Schuld sehr oft beim von Mobbing betroffenen Kind gesehen. In Gesprächen mit Lehrpersonen und Eltern über Mobbing fällt immer wieder der folgende, verheerende Satz: „Er / Sie ist ja auch nicht unschuldig daran!“ Dieser Satz ist deshalb so daneben, weil er oft als Begründung dient, um nicht aktiv werden zu müssen.

Es wäre unproblematisch, wenn der Satz wie folgt geäussert wird: „Das betroffene Kind trägt mit seinem Verhalten dazu bei, dass die Mobbing-Situation besteht. Wir müssen daher bei der Klasse ansetzen und zusätzlich diesem Kind dabei behilflich sein, sein Verhalten zu ändern.“

Tragisch wird es, wenn in der Folge vom betroffenen Kind erwartet wird, dass es „an sich arbeitet“ und die Situation alleine bewältigt. Genau genommen könnte man den Satz „Er ist ja auch nicht unschuldig daran…“ in diesem Fall weiterführen mit „…und deswegen hat dieses Kind das Mobbing als gerechte Strafe verdient und von mir keine Hilfe zu erwarten.“ Mit dieser Haltung wird das Kind in einer Situation alleine gelassen, die es ausschliesslich mit entschlossener Hilfe von aussen bewältigen könnte.

Weil es so schwierig ist, Schuldige auszumachen, oft die Falschen bestraft werden und Strafen zu Vergeltungsmassnahmen führen können, ist es hilfreich, den Blick zu weiten und sich mit Konzepten zu befassen, mit deren Hilfe Lehrpersonen in der Lage sind, Mobbing-Situationen ohne Schuldzuweisungen oder Strafen aufzulösen.

Mobbing auflösen – durch Empathie, Übernahme von Verantwortung und ein positives Ziel

Es ist nur natürlich, dass wir keine Schuld tragen möchten und bei Anschuldigungen in Abwehrstellung gehen.

Mobbing-Situationen können besser aufgelöst werden, wenn wir ein positives Ziel festlegen und fordern, dass:

Sich jedes Kind in der Klasse wohl fühlt und gut lernen kann. 

Wenn in einer Klasse gemobbt wird, sollte es darum gehen, sich auf dieses Ziel zu besinnen. Dabei kann jede Person, die bereit ist, Verantwortung für dieses Ziel zu übernehmen, zur Zusammenarbeit eingeladen werden und einen Beitrag leisten. Egal, ob es sich dabei um Lehrpersonen, Schüler/innen, Eltern, Schulleiter/in oder Schulsozialarbeiter/in handelt. Egal, ob sie bisher in irgendeiner Form am Mobbing beteiligt war oder nicht.

Während Strafen kaum dazu führen, dass die Akteure ihr Fehlverhalten einsehen, kann die Arbeit mit Geschichten, Berichten und Filmen über Mobbing Kindern dabei helfen, sich in die Betroffenen einzufühlen und sich für ein gutes Klima einzusetzen. Auch wenn es nicht gelingen sollte, dadurch den „Haupttäter“ zu erreichen, so findet doch in vielen Fällen ein Umdenken in der Klasse statt. Das Mobbing kann in der Folge oft dadurch aufgelöst werden, dass die Mitläufer und die Unbeteiligten sich gegen das Mobbing aussprechen und dem Täter oder der Täterin dadurch den für weiteres Mobbing nötigen Zuspruch entziehen.

Dazu eignet sich beispielsweise der folgende Film von Childnet:

Nach dem Film kann mit der Klasse darüber gesprochen werden:

  • Wie es Joe geht und wie er reagieren könnte (wobei deutlich werden sollte, dass Joe sich zwar Hilfe holen, sich aber alleine nicht wehren kann!)
  • Warum sich die anderen Kinder auf diese Weise verhalten (Hier kann zwischen der Akteurin „Kim“ und den anderen Kindern unterschieden werden, die sich entweder Kim anschliessen oder beschämt wegsehen.)
  • Was die einzelnen Kinder tun könnten, um Joe zu helfen (dieser Punkt sollte am meisten Raum einnehmen)

Mobbing-Expertin Christelle Schläpfer, die mit diesem Ansatz in Schulen arbeitet, verzichtet dabei gänzlich darauf, die aktuelle Mobbing-Situation in der Klasse direkt zu besprechen. Stattdessen entwickeln die Kinder Handlungsmöglichkeiten und Lösungen für die Figuren in den Filmen und Geschichten.

Eine akute Mobbing-Situation auflösen – mit einer Unterstützer-Gruppe

Bei der Anwendung des bekannten „No Blame Approach“ wird ebenfalls auf Schuldzuweisungen und Strafen verzichtet. Stattdessen wird mit einem Teil der Klasse eine Unterstützergruppe gebildet. Diese besteht zu gleichen Teilen aus Akteuren und Mitläufern sowie Kindern, die dem von Mobbing betroffenen Kind gegenüber neutral oder positiv eingestellt sind.

Die Lehrperson erzählt (nachdem sie mit dem betroffenen Kind gesprochen und sich die Erlaubnis eingeholt hat), dass es diesem Kind nicht gut geht und sie, die Lehrperson, die Hilfe der Gruppe benötigt. Dabei konzentriert sich die Lehrperson voll und ganz auf die Lösung des Problems und begegnet jedem Kind in der Gruppe mit Wertschätzung und Wohlwollen. Die Akteure der Gruppe werden nicht mit Fehlverhalten konfrontiert, sondern es wird ihnen gesagt, dass ihre Hilfe nötig sei, weil sie viel Einfluss in der Klasse haben, kreativ sind und die Lehrperson darauf vertraut, dass sie zu einer Lösung beitragen können. Meist können im Verlaufe des Gesprächs zunächst die neutralen Kinder und dann die Mitläufer dafür gewonnen werden, das betroffene Kind zu unterstützen. Damit verlieren die Akteure an Rückhalt. Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese sich ebenfalls überlegen, wie sie zu einer Lösung beitragen können. Die Lehrperson betont, dass die Mithilfe in der Unterstützergruppe freiwillig ist, nutzt aber ihre Beziehung zu den Kindern, um diese zu motivieren, sich in das betroffene Kind einzufühlen und sich positiv einzubringen. Die Evaluation dieses Ansatzes zeigt, dass dieses Vorgehen sehr viel wirksamer ist als Schuldzuweisungen, Konfrontation und Strafen. Das deutschsprachige Buch zu diesem Konzept von Heike Blum und Detlef Beck ist packend geschrieben und lässt sich an einem Nachmittag lesen:

Aktuell: Neue Filmserie für Lehrpersonen

Was können Schulen und einzelne Lehrpersonen tun, damit aus einer Klasse eine Gemeinschaft wird, in der sich jedes Kind wohl fühlt und gut lernen kann? Diesem Thema widmen wir uns in acht Kurzfilmen, die wir gemeinsam mit dem Schweizer Elternmagazin „Fritz “ Fränzi“ erstellen.

Zwei der Filme behandeln das Thema Mobbing. Sie sollen Lehrpersonen darin unterstützen, das Thema Mobbing präventiv im Unterricht zu behandeln und akute Mobbing-Fälle aufzulösen.

Die Filme werden nach und nach auf diesem Blog und Youtube erscheinen. Zu jedem Film werden wir konkretes Unterrichtsmaterial bereitstellen, um die Themen in der Klasse aufzugreifen.

Gerne informieren wir Sie, wenn ein neuer Film erscheint. Tragen Sie sich dazu einfach in unseren Newsletter ein, indem Sie nachfolgend Ihren Namen (oder einen Spitznamen) und eine E-Mail-Adresse eingeben. Der erste Film erscheint Ende April – es dauert daher noch ein wenig, bis Sie von uns hören: