„Mein Kind ist extrem fleißig – muss ich mir Sorgen machen?“

Für die einen klingt es nach einem Luxusproblem, anderen gibt es Anlass zur Sorge: „übermotivierte“ Kinder. Bei Vorträgen habe ich schon häufiger Aussagen von Eltern gehört wie:

  • „Sie kann sich fast nicht von ihrem Lernstoff losreißen, manchmal muss ich sie regelrecht dazu zwingen, jetzt das Material wegzulegen und etwas für sich zu machen…“
  • „Mein Kind arbeitet mehr als von der Schule vorgegeben wird und das freiwillig!“
  • „Meine Tochter liest in den Lektüren in Deutsch, Englisch und Französisch viel weiter als die Lehrperson dies verlangt, oft stundenlang.“
  • „Unser Sohn ist gar nicht zu stoppen. Meist macht er nach den normalen Hausaufgaben alle Fleißaufgaben und lernt dann noch kommende Themen im Schulbuch voraus.“

Und immer schwingt ein Funken Besorgnis mit und die Fragen „Überfordert sich mein Kind? Sollte ich es bremsen? Muss ich ihm mehr Freizeit verschaffen?“

Wo liegt die Grenze zwischen gesunder Motivation und Überforderung? Keine leichte Frage! Um abzuschätzen, ob die Arbeitshaltung eines Kindes langfristig zu seinem Wohlbefinden beiträgt oder es in einen Erschöpfungszustand treibt, müssen wir herausfinden, was genau hinter seinem Feuereifer steckt. Nehmen wir also die Spur auf…

Der Gefühlszustand ist entscheidend

Falls Sie sich Sorgen um Ihr „fleißiges Bienchen“ machen, hilft Ihnen vielleicht die folgende Übung weiter. Beobachten Sie Ihr Kind aus etwas Distanz wenn es lernt oder arbeitet. Stellen Sie sich dazu vor, Sie wären eine Forscherin, die ihre Erkenntnisse später detailliert niederschreiben möchte. Versuchen Sie, Ihr Kind neugierig zu betrachten, als würden Sie es heute zum ersten Mal in Ihrem Leben erspähen. Registrieren Sie dessen Gesichtsausdruck und nehmen Sie dessen Körperhaltung genau unter die Lupe. Was sehen Sie? Und welchen Gefühlszustand können Sie ablesen?

Möchten Sie noch tiefer in die Gefühlswelt Ihres Kindes eintauchen? Dann ziehen Sie sich im Anschluss kurz in einen separaten Raum zurück und versuchen Sie für sich, den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung Ihres Kindes zu imitieren. Verharren Sie einen Moment in dieser Position und nehmen Sie jeden Teil Ihres Körpers bewusst wahr. Horchen Sie nun in sich hinein: Wie fühlen Sie sich? Was geht Ihnen durch den Kopf?

Wahrscheinlich werden Sie das Befinden Ihres Kindes nun noch besser einschätzen können. Unser Körper verfügt nämlich über ein doppelseitiges Feedbacksystem, bei dem Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke bestimmte Gefühlszustände wecken können und umgekehrt. Daher kann uns die obige Übung dabei helfen, uns emotional in einen anderen Menschen einzufühlen.

Vielleicht erleben Sie bei Ihren Beobachtungen ein Kind, das in freudiger Erwartung ans Werk geht und wenig sLeistungsdruck Motivationpäter ganz in seine Sache vertieft ist. Diese Kinder erinnern uns häufig an kleine Tüftler oder Forscher. Mal fixieren sie hochkonzentriert die Aufgaben, mal schweifen sie mit entspannt-verträumtem Blick in die Ferne, um nachzudenken, mal umspielt ein Lächeln ihre Mundwinkel. Vielleicht hören Sie Ihr Kind auch stolz „Ja genau!“, „Ahja!“ oder „Yes!“ murmeln, wenn ihm eine Lösung eingefallen oder ihm etwas besonders gut gelungen ist. In diesem Fall ist Ihr Kind beim Lernen höchstwahrscheinlich positiv aktiviert und wird von neugierigem Interesse getrieben. Es wird das Lernen als etwas Schönes und Befriedigendes begreifen und dabei Energie tanken können. In diesem Fall dürfen Sie sich guten Gewissens entspannt zurücklehnen. Denn das Kind auszubremsen kann in diesen Fällen sogar kontraproduktiv sein wie das folgende Beispiel zeigt.

Ausbremsen – nicht immer eine sinnvolle Variante

Bücher übten auf mich (Stefanie) schon immer eine ganz besondere Faszination aus: die bunten Bilder, diese sonderbaren Buchstaben und die abenteuerliche Lesestimme meiner Mutter, an die wir Kinder uns eingemummelt in eine Mickey-Mouse-Decke kuschelten. Ich muss etwa viereinhalb gewesen sein, als mich der sehnliche Wunsch packte selbst „ein Buch zu schreiben“. Das Problem: ich konnte lediglich ein paar Buchstaben krakeln. Nicht die besten Voraussetzungen, wenn man eine Zauberhexengeschichte zum Leben erwecken will. Nun könnte man die Autoren-Ambitionen einer knapp Fünfjährigen leicht als kindlichen Idealismus abtun und müde darüber lächeln. Nicht aber meine Tante, die dieses Vorhaben achtete. Wann immer ich bei ihr zu Besuch war, nahm sie sich Zeit, um sich die neuen Abenteuer meiner Zauberhexe anzuhören, die sich immer weiter spannen. Während ich munter-vergnügt vor mich hinplapperte und mein geliebtes Caro-Getränk schlürfte, durfte ich ihr „diktieren“. Ihr schwerer, blauer Kugelschreiber mit Goldkuppe sauste über die Seiten und sie schrieb alles Wort für Wort in ein dickes, kariertes Notizbuch. Über Monate hinweg entstand ein „eigenes Buch“! Ein herrliches Gefühl!

Kurze Zeit später kam mein Bruder in die Schule und ich konnte es kaum erwarten, bis es bei mir auch endlich soweit sein würde. Denn diese Buchstaben und Wörter, die hatten es mir echt angetan. Dass man damit ganze Bücher füllen und tolle Geschichten zusammenbasteln konnte, war doch ein absoluter Hammer! Am allermeisten beneidete ich meinen älteren Bruder um seine Hausaufgaben. Kaum eine verführerische Spielmöglichkeit konnte es mit den Büchern und Blättern aufnehmen, die in einem unendlichen Strom aus diesem wunderlichen Ort Schule daher geschwemmt wurden. Ich habe noch heute das Bild vor Augen: mein Bruder, angestrengt über seine Hausaufgaben gebeugt, die kleine Schwester an ihm klebend, immer über die Schulter schauend. Er brunnentief seufzend:„was für eine Nervensäge!“, ich bedrängend: „lass mich auch mal sehen!“, die Mama, die schlichtet. Tag für Tag, Woche für Woche. Und dann das höchste der Gefühle, der Setzkasten – eine prall gefüllte Kiste voller Buchstaben. Wie gerne ich diese rote Box heimlich aus seinem Schulranzen stibitzte (ja Xavi, jetzt ist es raus – ich gebe es hier ganz öffentlich zu!), um die Zeichen zu entziffern und zu Fantasiewörtern zusammenzulegen.

So ließ das Lesen und Schreiben Können nicht lange auf sich warten und schon bald war ich regelmäßig mit der Nase in meinem Erstleserbuch „Für Steffi fängt die Schule an“ anzutreffen. Beim Schuleintritt dann die Ernüchterung. Meine Erstklasslehrerin schimpfte, „dass man diese Buchstaben erst in der Schule lernt“ und wollte mir manches daher gerne verbieten. Nach wenigen Tagen zitierte man meine Mutter in die Sprechstunde, um ihr den Kopf zu waschen. Der Vorwurf: Man dürfe Kindern doch nicht frühzeitig das Alphabet beibringen, das sei nicht förderlich, das übe doch Druck auf das Kind aus. Auf die Frage meiner Mutter, was man denn machen solle, wenn das eigene Kind von sich aus Interesse habe, einen mit Fragen zu den Buchstaben und Wörtern löchere, und dem älteren Bruder bei den Hausaufgaben auf die Pelle rücke, wusste die Lehrerin nur verächtlich zu schnauben. Die Bilanz war ernüchternd. Bisher war Lesen und Schreiben für mich verbunden gewesen mit einem Gefühl von Leichtigkeit, jetzt war da ein bisher unbekannter Druck und eine Unsicherheit – ausgelöst durch eine Lehrerin, die mit besten Absichten auf die Bremse stieg.

Immer wieder berichten Jugendliche und Erwachsene, dass solche Versuche von außen, die Lernmotivation eines Kindes im Zaum zu halten, zu einer großen Belastung für alle Beteiligten werden können. Daher möchten wir Sie ermutigen, Ihrem Kind sein rasantes Lerntempo zuzugestehen, solange Sie den Eindruck haben, es beschäftigt sich aus innerem Antrieb heraus mit bestimmten Inhalten und zeigt dabei merklich Freude, Neugier, Interesse, Begeisterung oder Erfinder- und Entdeckergeist. Oftmals erkennt man eine gesunde, innere Motivation auch daran, dass Kinder sich freiwillig und intensiv mit gewissen Inhalten auseinandersetzen, wenn der strukturierte Leistungskontext wegfällt, beispielsweise in den Sommerferien: greift das Kind von sich aus zu Büchern oder rechnet es im Urlaub mit Begeisterung unentwegt Dinge aus? Falls auch dies der Fall ist, dürfen Sie einige Sorgen über Bord werfen. Vieles spricht dafür, dass Ihr Kind diese Dinge als Freizeitbeschäftigungen empfindet. Bremsen Sie Ihr Kind nicht aus. Zeigen Sie eher Interesse an dem, was Ihr Kind so sehr fasziniert, stellen Sie Fragen und lassen Sie sich erklären, was es da liest, tut oder tüftelt. Ergreifen Sie die wunderbare Möglichkeit, in die Welt des Kindes einzutauchen und ein Gebiet aus seiner Perspektive zu erkunden.

Wenn die Angst zum Motor wird

Manche Kinder werden weniger von Neugier und Interesse angespornt, sondern wirken beim Lernen beinahe zwanghaft getrieben. Beobachtet man diese Kinder bei der Arbeit, sehen sie überwiegend verkrampft, angestrengt und irritiert aus. Als Reaktion darauf wächst bei den Bezugspersonen oftmals der Drang, den Kindern mehr Pausen zu verordnen und sie dazu zu ermutigen „es für heute gut sein zu lassen“. Nicht selten stößt man mit diesen Vorschlägen beim Kind auf starke Abwehr und hört Sätze wie: „Aber ich muss das haben!“ oder „Aber ich muss das können.“ Dabei hängt oftmals der ungesagte Nachsatz „…sonst könnte etwas passieren“ in der Luft.

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Exzessives Arbeiten scheint ein Weg zu sein, eine persönliche Katastrophe, einen Misserfolg, abzuwenden. Nervosität, Angst und Verzweiflung werden zu ständigen Lernbegleitern. Nicht selten brechen diese Kinder in Tränen aus, wenn eine Aufgabe nicht auf Anhieb gelingt. Sitzen sie bereits seit Stunden an den Hausaufgaben, sind sie kaum dazu zu bewegen, diese abzubrechen und reagieren auf Anregungen in diese Richtung hoch emotional. Schließlich möchten sie sich schlichtweg nicht die Blöße geben, mit unvollständigen Aufgaben in die Schule zu gehen. Vor Prüfungen arbeiten sie oftmals bis zur Erschöpfung, lernen bis in die Nacht hinein und gönnen sich kaum mehr Erholungsräume. Die Kinder werden angepeitscht von ihrem inneren Kritiker, der ihnen Angst einjagt, indem er im Hinterkopf immer darauf hinweist:

  • dass sie nicht gut genug sind
  • wie tragisch ein Misserfolg wäre
  • wie enttäuscht das Umfeld auf einen Misserfolg reagieren würde
  • dass sie nur gut und liebenswert sind, wenn sie makellose Leistungen abliefern
  • was alles Schreckliches, Peinliches oder Katastrophales passieren könnte

Wenn Sie vermuten, dass Ihr Kind von Ängsten angetrieben wird, benötigt es Unterstützung. Zu groß ist die Gefahr, dass es langfristig ausbrennt. Vielleicht möchten Sie in einem ruhigen Moment, zum Beispiel vor dem Schlafengehen, das Gespräch suchen.

Hilfreich sind oftmals Aussagen wie: „Ich habe gemerkt, XY macht dir Sorgen, hm? (…) was könnte denn passieren, wenn du die Prüfung versiebst / XY nicht kannst / schaffst?“ Wenn das Kind antwortet „Das wäre schrecklich!“, können Sie dies neugierig aufgreifen, anstatt dagegen zu argumentieren. Dazu eigenen sich Fragen wie: „Was daran wäre genau schrecklich?“ oder „Was glaubst du, was wäre dann?“ Falls Ihr Kind mit einem einsilbigen „weiß nicht.“ reagiert, können Sie auch Vorschläge machen wie: „Glaubst du, die Lehrerin würde dir den Kopf runter reißen?“ oder „Machst du dir Sorgen, dass wir enttäuscht wären?“ Tipp: Damit der Austausch fruchtbar wird, sollten wir auf die Frage, „warum hast du Angst?“ verzichten. Kinder und Jugendliche fühlen sich dadurch rasch angegriffen und in eine Verteidigungsposition gedrängt.

Für Kinder und Jugendliche sind ihre Sorgen und Ängste oftmals sehr diffus. Wenn wir mit ihnen darüber sprechen, was im schlimmsten Fall passieren könnte und sie dabei unseren Rückhalt spüren, merken sie oft, dass die Situation weniger bedrohlich ist, als sie es sich ausgemalt haben.

Wie Sie mit Ihrem Kind über Leistungsängste sprechen können, zeigt unser Film mit dem kleinen Biber:

Freizeit verschreiben

Leistungsängstliche, ehrgeizige Kinder brauchen Bezugspersonen, die ihnen dabei helfen, ein gesundes Gleichgewicht aus Arbeit und Freizeit zu entwickeln. Dazu kann es notwendig sein, kleinen Perfektionisten Freizeit „zu verschreiben“ und klar zu definieren, wann nicht mehr gearbeitet wird. Oftmals lassen sich Kinder eher darauf ein, wenn man ihnen erklärt, dass das Gehirn Pausen und Erholung braucht, um besser arbeiten zu können. Manchmal hilft das Bild eines Marathonläufers, der in Etappen trainiert und darauf achtet, die Muskulatur zu regenerieren, anstatt sich vor dem Wettkampf völlig auszupowern und dann erschöpft am Startblock zu erscheinen. Vielleicht können Sie Ihr Kind dazu anregen, einen Wecker zu stellen, der an die Pausen bzw. an das Ende der Lernzeit erinnert. Viele Eltern haben zudem gute Erfahrungen damit gemacht, eine Maximalzeit für die Hausaufgaben zu definieren im Sinne von: „Kinder in deinem Alter sollten ungefähr … Minuten Hausaufgaben machen dürfen. Ich als deine Mama / dein Papa sorge dafür, dass es dir gut geht und du genügend Erholung hast. Jetzt hast du echt viel gearbeitet, komm wir machen etwas Schönes!“

Tipp: Es ist ratsam, auf den Satz „Das hast du dir jetzt verdient!“ zu verzichten. Dieser stärkt nämlich die Wahrnehmung der Kinder, dass einem Freizeit erst zusteht, wenn man sich diese hart erkämpft hat. Gerade sehr gewissenhafte und ängstliche Kinder sollten jedoch lernen dürfen, dass man sich Erholungsräume aktiv nehmen soll und darf, auch wenn die To-Do-Liste noch nicht ganz abgearbeitet ist.

Überforderung

Das Müssen durch Dürfen ersetzen

Gerade ängstlichen Menschen schwirrt oftmals eine lange Liste von Geboten und Verboten im Kopf herum. Man erkennt diese an den Wörtern „Ich muss…“ oder „Ich darf nicht…“ Typische Sätze wie „Aber ich muss das können, aber ich muss das fertig bekommen, aber ich darf nicht versagen“ sind wie ein starres Korsett, das die Kinder und Jugendlichen immer mehr einengt und ihnen jegliche Luft zum Atmen raubt. Der innere Kritiker peitscht sie mit solchen Forderungen zu Höchstleistungen an – bis zur Erschöpfung. Als Bezugsperson können Sie Ihrem Kind dabei helfen, die Schnürung bewusst etwas zu lockern und für Entlastung zu sorgen, indem Sie das Wort „Müssen“ durch ein „Dürfen“ ersetzen. Wenn Ihr Kind zum Beispiel sagt: „Aber ich muss alles vollständig haben!“, können Sie antworten: „Laura, du darfst auch mit einem Teil der Hausaufgaben in die Schule gehen. Ich schreibe dir eine Notiz ins Kontaktheft, dass du lange und konzentriert daran gearbeitet hast und dass es für den Moment noch zu schwierig war. Dann kann die Lehrerin es morgen nochmals erklären. Wenn du es nicht verstehen konntest, gibt es bestimmt noch andere Kinder, die damit auch Mühe hatten.“ Äußert Ihr Kind „Ich muss alles richtig haben“, „Ich darf keine Fehler machen!“ oder „Ich darf nicht versagen!“ können Sie liebevoll einwerfen: „Du darfst Fehler machen. / Du darfst einen zweiten Anlauf nehmen. / Du darfst Dinge ausprobieren, die du noch nicht kannst.“ Dieses Vorgehen weitet mit der Zeit den Blick und gibt dem Kind ein Gefühl von Freiheit und Handlungsspielraum.

Gelassener mit Leistungen umgehen

Kinder, die im Leistungskontext wie getrieben wirken, legen einen großen Fokus auf Bewertungssituationen. Sie registrieren genau, wie Eltern und Lehrpersonen auf Noten reagieren und versuchen auszumachen, was dies für ihren Wert als Mensch bedeutet. Perfektionistische Kinder werten sich schnell ab, wenn sie etwas nicht auf Anhieb beherrschen und betiteln sich beim kleinsten Fehler als dumm, bescheuert oder idiotisch. Reagieren Eltern mit gut gemeinter Besänftigung wie „Du bist doch nicht dumm – das kann doch jedem mal passieren!“, „Das ist doch immer noch super!“ oder „Andere wären froh, wenn sie so gut abschneiden würden“, werden die Kinder oftmals noch ärgerlicher. Gleichzeitig haben diese Kinder oft Schwierigkeiten, positive Rückmeldungen anzunehmen. Sie stürzen sich auf jede noch so kleine mitschwingende Kritik und fühlen sich rasch gekränkt. Je mehr Gespräche sich um Leistungen, Noten und Begabungen drehen, desto stärker rücken diese Punkte bei den Kindern in den Fokus. Wenn wir perfektionistischen Kindern zu mehr Entspannung und Gelassenheit verhelfen möchten, sollten wir bewusst aus diesem Karussell aussteigen. Anstatt bei einem (vermeintlichen) Misserfolg über die Note zu diskutieren und die positiven Punkte hervorzuheben, könnten wir das Kind fragen, was ihm jetzt gut tun würde und die klare Botschaft senden: Ich bin da und stehe hinter dir. Du bist ein wertvoller Mensch und ich liebe dich, auch wenn oder gerade dann, wenn mal etwas (aus deiner Sicht) danebengeht. Anstatt bei einem neuen Spiel lediglich zu wetteifern, wer gewinnt, könnte man von Zeit zu Zeit auch einmal gemeinsam weiterspielen, verschiedene Strategien ausklügeln, und darauf hinweisen, wie viel Freude das Zusammensein macht. Weitere Anregungen zu diesem Punkt finden Sie im Artikel „Mein Kind ist ein kleiner Perfektionist!“ und in unserem Biberfilm „Verlieren lernen leicht gemacht!“

Die eigene Haltung hinterfragen

Es bricht einem fast das Herz, wenn man Kinder erlebt, die sich selbst –oftmals trotz sehr guter Leistungen – enorm unter Druck setzen und ihren Alltag kaum mehr genießen können. Egal ob in der Schule, beim freien Spiel mit den Nachbarskindern oder beim Training im Sportverein, immer steht der Leistungsgedanke für sie im Vordergrund, immer schwebt die Angst vor dem Versagen, dem Gesichtsverlust über ihnen. Viele Eltern machen die frustrierende Erfahrung, dass gutes Zureden nicht auf fruchtbaren Boden fällt. Lieb gemeinte Ermutigungssätze wie: „Man kann nicht immer der Beste sein.“ Oder „Es ist doch nicht schlimm, wenn man einen Fehler macht.“ scheinen kaum etwas zu bewirken. Manchmal liegt das daran, dass man als Erwachsener doppelbödige Botschaften aussendet. Man gibt mit Worten Signale in eine Richtung und transportiert im Verhalten unbemerkt eine gegenläufige Botschaft. Wie das aussehen kann, zeigt das folgende Beispiel:

Ein alleinerziehender Vater suchte einen Lerncoach auf, weil er sich Sorgen um seinen jüngsten Sohn machte. Der Viertklässler sei sehr ehrgeizig und setze sich bei den Hausaufgaben, aber auch bei Prüfungen selbst oftmals enorm unter Druck. Der ältere Bruder nehme die Schule lockerer. Sogar beim Übertritt ins Gymnasium vor einem Jahr habe der Älteste stets einen kühlen Kopf bewahrt und die Aufnahmeprüfung ohne großen Stress gemeistert.

Seit einiger Zeit gab es in der Familie ein hitziges Streitthema. Der jüngere Sohn hatte angefangen, seinen Papa um Gymiprüfungsaufgaben zu bitten. Der Vater war irritiert, schließlich war sein Sohn erst in der vierten Klasse und würde frühestens in zwei Jahren in eine weiterführende Schule wechseln. Er konnte den Sinn hinter dem Wunsch seines Sohnes nicht erkennen und war der Meinung, die Aufgaben wären für den Wissenstand eines Viertklässlers ohnehin viel zu anspruchsvoll. Der Junge ließ sich von diesen Argumenten jedoch nicht beeindrucken und forderte weiterhin Prüfungsaufgaben ein. Der Grund: das „interessiere ihn einfach“. Irgendwann konnte der Vater den vehementen Forderungen des Jungen nicht mehr standhalten und ließ sich breitschlagen, über das Internet, über Bekannte und über Förderinstitute nach Probeprüfungen zu suchen. Kurze Zeit später verbrachte der Junge jede freie Minute mit diesen Aufgaben. Er war außer sich, wenn er diese nicht lösen konnte und legte den einen oder anderen handfesten Wutausbruch aufs Parkett. Sein Vater versuchte, ihn zu beruhigen, indem er ihm gut zuredete: „Das kannst du auch noch gar nicht können, das ist ja Stoff für die sechste Klasse. Du bist doch erst in der vierten. Mach dir bitte keine Sorgen. Das lernst du schon noch…“ Aber nichts schien zu helfen. Auch im Sportverein und bei Spielen wollte der Bub gemäß Vater „immer der Beste sein“. Das Thema Leistung nahm viel Raum im Leben des Jungen ein.

Die Lernberaterin nahm die Arbeit mit dem Jungen auf, lud aber auch den Vater regelmäßig zu Beratungssitzungen ein. In der zweiten Stunde kam die Frage auf, ob der Vater die ehrgeizigen Züge seines Sohnes aus der eigenen Familiengeschichte kenne. Daraufhin gab der Vater schmunzelnd zurück: „Naja, um ehrlich zu sein… der Apfel fällt wohl nicht weit vom Stamm“. Im Verlauf des Gesprächs erzählte der Vater, dass er selbst „ziemlich perfektionistisch“ sei. Er nehme häufig Arbeit mit nach Hause, weil er sich nicht lösen könne. Auch im Haushalt sei er sehr penibel, es falle ihm schwer, zu entspannen, wenn das Tagespensum nicht sauber erledigt sei. „Wenn ich es mir recht überlege, habe ich deswegen auch oft wenig Zeit für die Jungs. Wenn sie dann kommen und etwas mit mir machen wollen, vertröste ich sie meistens und sage „ich muss das jetzt noch fertig kriegen!“

Im Verlauf der Beratung entdeckte der Vater viele Parallelen zwischen sich selbst und seinem jüngsten Sohn und kam zu dem Schluss, „dass sich der Kleine vielleicht auch etwas abschaut“. Als sie sich dem Thema Leistungsansprüche widmeten, äußerte der Vater nachdenklich: „Mit meinem Sohn kann ich bei Fehlern oder schlechten Noten total großzügig sein, habe Verständnis für ihn und meine das dann auch von Herzen so, aber an mich selbst, da setze ich eigentlich ganz andere Standards.“ Er erzählte von vielen Momenten, in denen er sich mit seinen überhöhten Ansprüchen unter Stress setzte und stellte betroffen fest, wie sehr sie ihn daran hinderten, ein zufriedenes Leben zu führen.

In der Beratung wollte der Vater von nun an das Ziel verfolgen, im Umgang mit sich selbst eine gelassenere Haltung zu entwickeln: das Chaos in der Küche von Zeit zu Zeit stehen zu lassen, um mit den Jungen ein Spiel zu machen; Die unfertige Arbeit auch einmal im Büro liegen zu lassen und sich mit guten Gefühl sagen zu können „das hat bis morgen Zeit“; Freundlicher mit sich selbst und anderen umzugehen, wenn im Alltag oder bei der Arbeit etwas danebengeht;

In kleinen Schritten begann sich die Atmosphäre im Männerhaushalt zu verändern. Der Vater staunte, wie stark sich die Auseinandersetzung mit seinen eigenen Leistungsansprüchen auf seine Söhne auswirkte.

Kinder lernen vieles von uns Erwachsenen, indem sie uns beobachten. Dabei „sagen Taten mehr als Worte“. Wie uns das obige Beispiel zeigt, ist es gar nicht so leicht, eigene hinderliche Einstellungen zu erkennen und zu hinterfragen. Gerade wenn man selbst unter seinen perfektionistischen Tendenzen leidet und im Alltag stark unter Druck steht, kann es sinnvoll sein, sich gemeinsam mit einer Fachperson auf den Weg zu machen.

Das Wichtigste in Kürze:

So erkennen Sie, ob die gesteigerte Motivation Ihres Kindes sich in gesunden Bahnen bewegt:

  • Achten Sie auf die emotionale Befindlichkeit des Kindes beim Lernen – diese ist entscheidend.
  • Ein vorherrschender Zustand von neugierigem Interesse, Begeisterung, positiver Aktivierung, Freude, Stolz, Wissbegier und Entspannung deutet auf einen gesunden und unbedenklichen inneren Antrieb hin. Ein weiterer Hinweis in diese Richtung: Das Kind wendet sich auch in den Ferien von allein mit Freude bestimmten Inhalten zu.
  • Ein vorherrschender Zustand von Anspannung, Nervosität, Irritation, Unsicherheit oder Verzweiflung beim Lernen verbunden mit der Weigerung, sich zu erholen, weist auf Angst als treibende Kraft hin. In diesem Fall besteht die Gefahr, dass das Kind ausbrennt.

Bezugspersonen können leistungsängstlichen Kindern helfen, indem sie:

  • Freizeit und Erholungsräume aktiv einplanen
  • mit ihnen über mögliche Befürchtungen sprechen und ihnen zusichern, dass sie hinter ihnen stehen
  • mit ihnen einen Schlachtplan für schwierige Situationen zurechtlegen
  • dem „Ich muss…“ des Kindes mit einem „Du darfst…“ begegnen
  • dem Ergebnis weniger Beachtung schenken und den Blick stärker auf den Prozess lenken (z.B. auf den Inhalt eines Aufsatzes, die gewählte Technik bei einem Kunstprojekt, das gemütliche Zusammensein bei einem Spiel)
  • den Umgang mit Fehlern und Frust gezielt trainieren
  • die eigenen Leistungsansprüche hinterfragen

Mehr dazu, wie Sie das Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl Ihres Kindes stärken können, erfahren Sie in unserem Buch „Geborgen, mutig frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden“:

 

Unsere Seminare:

Für Lehrpersonen: Lernstrategien vermitteln – weniger ist mehr

Für Eltern: „Resilienisch“ – ein Sprachkurs für innere Stärke (Resilienz in der Familie)

Autorenteam

Stefanie Rietzler Fabian Grolimund

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen und leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching. Ihre große Leidenschaft gilt dem Schreiben von Büchern.