Mobbing geht uns alle an – Fakten und Tipps für Eltern

Ein Interview mit den Mobbing-Fachberatern Bettina Dénervaud und Pascal Kamber, den Gründern der Fachstelle für Schulen und Eltern «Hilfe bei Mobbing».

Bettina, was war der Auslöser für die Gründung eurer Fachstelle für Mobbing?

Während meiner Weiterbildung zum Lerncoach an der Akademie für Lerncoaching in Zürich gab es auch Ausbildungsmodule zum Thema Mobbing mit dem renommierten Dozenten Detlef Beck, der mit seiner Geschäftspartnerin Heike Blum das Thema Mobbing vor bald 20 Jahren aufgegriffen und in Deutschland erfolgreich etabliert hat. Insbesondere hat uns Detlef Beck den «No Blame Approach» vermittelt. Mich hat von Anfang an fasziniert, dass dieser Interventionsansatz im Prinzip sehr einfach anzuwenden ist und fast 90% von Mobbingfällen innert zwei Wochen erfolgreich und nachhaltig gestoppt werden können. 96% der Befragten sind mit der Methode des «No Blame Approach» sehr zufrieden. Diese Ergebnisse sprechen für sich, und ich begann mich zu fragen, weshalb diese Methode in Deutschland und mittlerweile auch Österreich flächendeckend bekannt ist und sich über die Jahre hinweg über alle Bundesländer und Schulformen ausgebreitet hat, in der Schweiz jedoch relativ unbekannt ist. Dies gab mir den Anstoß, mich näher damit zu beschäftigen und weiterzubilden. Zirka drei Jahre lang trug ich den Gedanken in mir, etwas Vergleichbares in der Schweiz aufzubauen. Die Suche nach einem passenden Projektpartner erwies sich als nicht einfach, da Mobbing für viele ein schwieriges, komplexes Thema ist, womit sich keiner «die Finger verbrennen will». Und ein Projektaufbau ist zudem mit viel Arbeit verbunden, wozu man viel Idealismus und Herzblut mitbringen muss und die Bereitschaft, den ganzen Aufbau auch finanziell selber zu tragen. Schlussendlich sagte ich mir: wenn ich diese Fachstelle nicht eigenständig aufbaue, wer tut es dann? Und wenn nicht jetzt, wenn dann?

Während dieser Zeit las und hörte ich immer wieder von Mobbing-Fällen, die teilweise dramatisch endeten. Und in fast allen Fällen fiel mir auf, dass sich die involvierten Parteien (Schule, Familie, sonstige Bezugspersonen und natürlich insbesondere der/die Mobbing-Betroffene/r) überfordert und hilflos fühlten. Diese Machtlosigkeit ist bei jedem einzelnen Fall sehr gut spürbar; das Gefühl oder auch tatsächlich die Aussage «da kann man eh nichts tun». Oder noch schlimmer: «Der/die Betroffene trägt womöglich doch ein wenig Mitschuld an der Misere…». Generell kann man wohl sagen, dass Wegschauen einfacher als Hinschauen ist. Ich aber wollte nicht mehr Wegschauen, sondern endlich handeln. Und der Bedarf ist ganz klar da: im Laufe seiner Schulzeit wird laut Studien jedes 7. Schulkind Opfer von Mobbing.

Als ich somit den festen Entschluss gefasst hatte, das Projekt wenn nötig auch alleine zu stemmen, ergab sich der Kontakt mit meinem jetzigen Projektpartner Pascal Kamber. Er war im Elternrat der Schule seiner Töchter Initiant einer Arbeitsgruppe zum Thema Mobbing und kam dadurch auf mich zu. Ich merkte bald, dass er sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt hatte und es ihm wahrhaftig ein Anliegen ist, etwas bewegen und verändern zu wollen, zum Wohle der von Mobbing betroffenen Kindern und Jugendlichen.

Pascal: Ich finde, jedes Kind soll die Möglichkeit haben, ohne Angst und psychischen Stress, was Mobbing/Cybermobbing zwangsläufig mit sich bringt, durch die Schulzeit zu kommen. Die Schulzeit ist ein sehr prägender Abschnitt in der Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen. Nicht selten tragen Menschen die erlittenen Peinigungen und Demütigungen bis ins Erwachsenenalter weiter mit sich. Schlussendlich stand fest, dass wir das Projekt, sprich die Fachstelle «Hilfe bei Mobbing» für Schulen und Eltern, gemeinsam aufbauen wollen.

Pascal, was sollten Eltern tun, wenn sie merken, dass ihr Kind von Mobbing betroffen ist?

Auch wenn es angesichts der Situation schwerfallen kann: Überstürzen Sie als Eltern nichts, sondern handeln Sie besonnen. Nehmen Sie Ihr Kind ernst, verharmlosen Sie nicht und – ganz wichtig – stellen Sie klar, dass «Hilfe holen» kein «Petzen» ist. Sprechen Sie stattdessen offen mit Ihrem Kind und überlegen Sie als Familie gemeinsam, wie das weitere Vorgehen aussehen kann. Schlagen Sie Ihrem Kind nächstmögliche, sinnvolle Schritte vor: Sie als Eltern informieren die Klassenlehrperson und erläutern in einem persönlichen Gespräch die Situation, ohne anklagend zu wirken. Oft ist es so, dass die Klassenlehrperson vom Mobbing in der Tat nichts mitkriegt, da die Mobbing-Handlungen in der Regel im Versteckten stattfinden. Lassen Sie sich danach erklären, welche Maßnahmen die Schule vorsieht und geben Sie der Lehrperson bzw. Schule auch Zeit, diese umzusetzen. Greifen Sie allenfalls auch auf außerschulische Angebote wie psychologische Beratungsstellen oder eben auf unsere Fachstelle zurück. Da jeder Mobbing-Fall anders verläuft, sind manchmal auch unterschiedliche Maßnahmen angesagt.

Bettina, gibt es auch Handlungen, welche Eltern unterlassen sollten?

Ja, die gibt es… verständlicherweise wollen Eltern möglichst schnell helfen und dem Mobbing Einhalt gebieten. Sie handeln dann oft recht impulsiv und kontaktieren beispielsweise als erstes die Eltern der Mobbing-Akteure und -Akteurinnen. Auch wenn dies gut gemeint ist, haben solche Handlungen großes Potential, die Lage zu verschlimmern. Dies hat oft zur Folge, dass die Eltern untereinander in einen Konflikt geraten. Konstruktive Lösungswege werden dadurch zusätzlich erschwert. Auch sollten Sie keinesfalls die Mobbing-Akteure/Akteurinnen selbst konfrontieren, denn dies führt in der Regel zu einer Verschlimmerung der Mobbingsituation. Ihr Kind kommt dann umso mehr unter Druck und wird von den Akteuren/Akteurinnen für Ihre Intervention zusätzlich gestraft.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Machen Sie keinesfalls Aussagen Ihrem Kind gegenüber wie «vielleicht müsstest du dich halt auch ein bisschen anders verhalten» oder ähnliches. Dies führt beim Kind zu eigenen Schuldzuweisungen im Sinne von «womöglich trage ich ja wirklich selbst Schuld, dass die anderen mich so behandeln…».

Entscheiden Sie zudem nichts über den Kopf Ihres Kindes hinweg, sonst fühlt sich Ihr Kind «hintergangen» und erzählt plötzlich gar nichts mehr und verschließt sich Ihnen gegenüber. Erklären Sie Ihrem Kind deutlich, dass es keine Schuld trifft und dies jedem passieren kann. Aber auch, dass es die Mobbingsituation nicht einfach zu erdulden hat, sondern ein Recht auf Unterstützung und Hilfe hat.

Pascal, wir hören oft, dass sich Eltern von der Schule im Stich gelassen fühlen. Was empfiehlst du hilfesuchenden Eltern diesbezüglich?

Dies kommt in der Tat vor, dass sich Eltern von der Schule nicht gehört und ernstgenommen fühlen. Die Eltern sind verunsichert, was sie von der Schule fordern dürfen und was nicht. Hinnehmen soll man Mobbing auf keinen Fall. Haben die Eltern eine Vermutung oder die Gewissheit, dass ihr Kind das Ziel von Mobbing ist, so sollten sie unbedingt Kontakt mit der Schule aufnehmen. Die Zahl der Schulen, die über Instrumente bzw. Prozesse verfügen, wie sie mit Mobbing umgehen, steigt.

Unser Ratschlag ist in der Regel der, dass Eltern zuerst die Klassenlehrperson, allenfalls auch den/die SchulsozialarbeiterIn und die Schulleitung informieren sollten. Berichten Sie als Eltern möglichst neutral und ohne Schuldzuweisung, wie es Ihrem Kind geht, wie Sie es erleben und sich sein Verhalten verändert hat. Lassen Sie sich erklären, welche Maßnahmen die Schule im konkreten Fall vorsieht und geben Sie der Schule Zeit, dass ihr Vorgehen greifen kann. Bleiben Sie unbedingt in Kontakt mit der Schule (am besten einen Folgetermin vereinbaren!), um sich über die Wirkung der getroffenen Maßnahmen auszutauschen und zu überprüfen, ob sich die Situation verbessert.

Bettina, Eure Fachstelle bietet auch telefonische Beratungen an. Wer nimmt dieses Angebot in Anspruch?

Zirka 80% der Anrufer/innen sind Eltern, die restlichen 20% Lehrpersonen, andere Familienangehörige oder Freunde der von Mobbing betroffenen Person.

Wir hören als Feedback praktisch immer, dass alleine das Zuhören und «sich ernstgenommen Fühlen» eine große Erleichterung und moralische Unterstützung bietet. Da sich verständlicherweise die meisten Eltern unsicher über das Vorgehen sind, empfiehlt sich eine telefonische Beratung bei unserer Fachstelle. Wir können damit zwar das Mobbing nicht wie von Zauberhand beenden – unser Ziel ist aber, die Situation richtig einzuschätzen und den Eltern aufgrund ihrer Erzählungen zu einem sinnvollen, zielgerichteten Vorgehen zu raten.

Pascal, in der heutigen Zeit findet Mobbing auch im Internet statt. Welche Maßnahmen werden in solchen Fällen ergriffen?

Von Cybermobbing spricht man, wenn unter Einsatz moderner Kommunikationsmittel wie Smartphone, Chat, E-mail, sozialen Netzwerken, Foren und Blogs absichtlich und über längere Zeit hinweg beleidigendes Material in Form von Texten, Bildern und/oder Filmen verbreitet wird.

Ziel dieser Handlungen ist es, jemanden zu verleumden, bloßzustellen, auszustoßen und/oder zu belästigen. Für die Opfer von Cybermobbing entstehen daraus Ängste und Depressionen bis hin zu Suizidgedanken oder -handlungen.

Eltern und Lehrer sollten bereits präventiv mit den Kindern Cybermobbing thematisieren. Die Kinder und Jugendlichen sollten informiert sein wie sie sich richtig verhalten, wenn sie Opfer von Cybermobbing werden. Sie sollten auch wissen, mit welchen rechtlichen Konsequenzen / strafrechtlichen Folgen sie als Täter/Täterinnen bei einer Cybermobbing-Attacke zu rechnen haben.

Bettina, wie können Eltern bei Cybermobbing präventiv und unterstützend wirken?

Ganz wichtig ist sicherlich, den Kindern einen bewussten und kritischen Umgang mit digitalen Medien beizubringen und auch selbst vorzuleben.

Beachten sie Verhaltensveränderungen Ihres Kindes und sprechen Sie es auf mögliche Ursachen von Cybermobbing an. In erster Linie sollte der oder die Betroffene nicht online auf die Anschuldigungen oder Belästigungen reagieren. Für eine erfolgreiche Strafverfolgung der Polizei ist es von größter Wichtigkeit, dass sämtliches Material gespeichert und gesammelt wird (z.B. Screenshots), welches auf die Täterschaft hinweisen kann. Chatverläufe, SMS, Mails, MMS usw. dürfen auf keinen Fall gelöscht werden. Die Täterschaft sollte man sperren und dem sozialen Netzwerk oder Chatforum melden.

Eltern können die Lehrpersonen, Schulleitung, Schulsozialdienste, den schulpsychologischen Dienst oder unsere Fachstelle um Rat fragen. Eine der Hauptfragen ist oft, ob eine Anzeige bei der Polizei notwendig ist und Sinn macht.

Meist ist Cybermobbing mit dem «Mobbing offline» in einem Gruppengefüge wie einer Schulklasse eng verknüpft. Wird die Mobbingsituation in der Klasse/Schule beendet, hört das Cybermobbing meist auch auf. Allfällige rechtliche Konsequenzen wegen Cybermobbing werden separat geahndet.

Pascal, wie ist die Rechtslage punkto Cybermobbing?

Cybermobbing als solches gilt nicht als Straftat. In der Schweiz gibt es keinen eigenständigen Gesetzesartikel zu Cybermobbing. Zahlreiche Gesetzesbestimmungen des Strafgesetzbuches (StGB) ermöglichen es aber, Täter und Täterinnen zur Rechenschaft zu ziehen. Je nach Ausmaß der Attacke liegen eine oder mehrere Straftaten vor. Dabei sind zwei Arten von Delikten zu unterscheiden:

Offizialdelikte

–        Art.156 StGB, Erpressung

–        Art.181 StGB, Nötigung

Antragsdelikte

–        Art.143bis StGB, Unbefugtes Eindringen in ein Datenverarbeitungssystem

–        Art.144bis Ziff.1 StGB, Datenbeschädigung

–        Art.173 StGB, Üble Nachrede

–        Art.174 StGB, Verleumdung

–        Art.177 StGB, Beschimpfung

–        Art.179quater StGB, Verletzung des Geheim- oder Privatbereichs durch Aufnahmegeräte

–        Art.179novies StGB, Unbefugtes beschaffen von Personendaten

–        Art.180 StGB, Drohung

Vielen Dank für das spannende Interview und viel Erfolg mit eurer Fachstelle!