Mobbing: Familien erzählen ihre Geschichte

Gemobbt von der Kindergärtnerin – und das Kind schweigt

Frau V. mit Tochter erzählt ihre Geschichte

Nach Beginn des zweiten Kindergartenjahres kam es immer öfter zu Situationen, die wir als Eltern nicht richtig einschätzen konnten. Unsere Tochter kam immer öfter still und traurig nach Hause. Da die Kindergartenlehrperson vom ersten auf das zweite Kindergartenjahr gewechselt hatte, gingen wir erst davon aus, dass unsere Tochter die Kindergärtnerin vermisste. Sie zog sich zurück und verweigerte jegliche Gespräche über den Kindergarten.

Nach drei Monaten fing unsere Tochter an, sich selbst abzuwerten. Sie machte Aussagen wie. „Das bin ich sowieso nicht wert“, „das kann ich sowieso nicht“ und „schreit mich doch an und bestraft mich, ich weiss ich bin nicht richtig“. Wir waren schockiert, schliesslich hatten wir unserer Tochter nie diese Werte vermittelt oder solche Aussagen ihr gegenüber gemacht.

Zur selben Zeit kamen Eltern auf uns zu, dass unsere Tochter wohl sehr schwer zu erziehen sei, da die Kinder zu Hause berichteten, die Kindergärtnerin schimpfe nur mit unserer Tochter. Kinder wollten im Kindergarten plötzlich nicht mehr mit unserer Tochter spielen, da sie doch sowieso nur ungezogen sei und Ärger mache. Erste Freundschaften lösten sich auf und unsere Tochter wollte nicht darüber sprechen.

Da wir bereits im ersten Kindergartenjahr die heilpädagogische Früherziehung in Anspruch nahmen, weil wir wussten, dass unsere Tochter spezielle Bedürfnisse hatte, baten wir die Kindergärtnerin gemeinsam um ein Gespräch. Die Kindergärtnerin verweigerte ein Elterngespräch in Anwesenheit der Heilpädagogin und versicherte mir, dass unsere Tochter ein unauffälliges normales Mädchen sei.

Immer öfter klagte meine Tochter über Bauchschmerzen und wollte zu Hause bleiben. Besuchte sie den Kindergarten, wollte sie bis zur Tür begleitet und wieder abgeholt werden.

Wir versuchten derweil unsere Tochter zu stützen. Gemeinsam mit der heilpädagogischen Früherziehung suchten wir nach Möglichkeiten, dass unsere Tochter ihre Sorgen mitteilen konnte, ohne darüber zu sprechen. Wir stiessen auf die Sorgenfressmonster. So konnte sie ihren Kummer zeichnen und hatte ein Ventil für ihre Sorgen. Wir führten auch ein Tagebuch, in welchem sie besondere Ereignisse oder Erfolge festhalten konnte und nahmen uns abends nur für sie Zeit, damit sie den Tag mit uns besprechen konnte.

Jede Nachfrage bei der Kindergärtnerin von uns Eltern oder der heilpädagogischen Früherziehung wurde damit beantwortet, dass unsere Tochter im Kindergarten keine Probleme habe, sich unauffällig verhalte und ein normales Kind sei. Dabei wussten wir ganz genau, dass unsere Tochter schon vor der Situation kein normales unauffälliges Kind war.

Die Sorgen unseres Kindes zu spüren und zu sehen, dass es ihm immer schlechter geht, aber man nicht weiss, wieso, weil das Kind den Mut nicht findet, darüber zu sprechen: das war eine Zerreissprobe für die ganze Familie. Man stellt sich als Mutter, Vater und Grosseltern in Frage. Was habe ich falsch gemacht, dass sich mir mein Kind nicht anvertraut? Wieso kann es sich auch sonst niemandem anvertrauen? Den Grosseltern oder der Heilpädagogin?

Nach endlosen sechs Monaten sprudelte es morgens auf dem Weg in den Kindergarten aus unserer Tochter heraus. Wir standen mit anderen Kindern und Müttern am Zebrastreifen als meine Tochter sich den Finger in den Hals steckte um zu erbrechen. Ich war geschockt und fragte sie, wieso sie das gemacht hätte und sie sagte: „Ich gehe nie wieder in den Kindergarten. Die Kindergärtnerin ist so gemein zu mir. Auch wenn ich nur still dasitze und gar nichts mache, schreit sie mich an oder sagt gemeine Dinge über mich. Lieber wäre ich tot, ich bin ja sowieso falsch und niemand im Kindergarten mag mich.“

Wir waren alle schockiert zumal die anderen Kindergartenkinder anfingen, die Aussage meiner Tochter zu bestätigen. Sie versuchten meine Tochter zu trösten: „Die Kindergärtnerin mag dich nicht, mach dir nichts daraus.“ „Ich habe auch schon ein bisschen Angst, wenn sie dich anschreit“ „Hmm, die ist schon gemein zu dir, aber ich bin dann froh, dass sie mit dir schimpft und nicht mit mir“

Selbstverständlich hat meine Tochter den Kindergarten an diesem Tag nicht mehr besucht. Zu Hause sprachen wir stundenlang mit unserer Tochter und ihr ganzer Kummer entlud sich:

„Wenn du lachst, siehst du aus wie ein Schwein.“ „Halt mal dein Maul:“ „Du nervst.“ „Du benimmst dich, als wärst du behindert.“ „Habt ihr gesehen, sie isst wie ein Schwein.“ An manchen Tagen musste unsere Tochter alleine vor der Tür in der Garderobe ihr Znüni essen, während die Kinder im Klassenzimmer gemeinsam ihr Znüni essen durften. – Ein kleiner Auszug aus dem Kindergartenalltag unserer Tochter.

Die schlimmste Schilderung war, dass die Kindergärtnerin wohl Privatbesuch im Kindergarten hatte und zu der Person in Anwesenheit meiner Tochter sagte: „Das ist der „Saugoof“, von dem ich dir erzählt habe.“

Wir suchten noch am selben Tag den Kinderarzt auf, um unsere Tochter krankschreiben zu lassen. Er dokumentierte die Aussagen und empfahl uns einen Termin beim Kinderpsychologen.

Zeitgleich vereinbarten wir Eltern einen Termin bei der Schulleitung, schilderten die Situation und übergaben den Bericht des Kinderarztes. Gemeinsam vereinbarten wir, den Bericht des Kinderpsychologen abzuwarten und unsere Tochter solange zu Hause zu behalten. Die Meldung bei der Schulleitung verlief sehr wertschätzend und wir wurden an hilfreiche Fachstellen weitergeleitet.

Gerne wollte ich die Kindergärtnerin in einem Gespräch anhören, sie mit den Problemen konfrontieren, aber sie war ebenfalls krank geschrieben und für ein Gespräch nicht mehr verfügbar.

Dank einer neuen, sehr einfühlsamen und engagierten Kindergärtnerin hat unsere Tochter Schritt für Schritt wieder Vertrauen in die Schule gefasst. Die Kindergärtnerin half unserer Tochter, wieder ihren Platz in der Klasse zu finden, indem sie die Stärken unserer Tochter hervorhob. In einem Elterngespräch sagte die Kindergärtnerin zu mir: „Ihre Tochter hat ganz viele Stärken, man muss sie nur sehen.“

Ich kann mich erinnern, dass kurz danach ein Mädchen aus der Kindergartenklasse kam und über meine Tochter sagte: „Sie zeichnet die schönsten Prinzessinnenschlösser, die es gibt. Sie zeichnet für uns alle so tolle Schlösser und Prinzessinnen und wir malen sie dann aus.“ – Da wusste ich, meine Tochter hat ihren Platz wiedergefunden.

In der Schule wird unsere Tochter von tollen und engagierten Lehrpersonen unterrichtet, die sie so akzeptieren wie sie ist. Sie fühlt sich angenommen und als ein wertvoller Teil der Klasse. Bis heute freut sie sich jeden Tag in die Schule zu gehen und spricht zu Hause über ihre Probleme und Sorgen.

Wir begleiten unsere Tochter weiter mit dem Tagebuch und dem Abendritual um den Tag zu reflektieren. Zusätzlich haben wir einen festen Mutter- und einen Vater-Tochter-Tag, den wir gemeinsam planen. Bei mehreren Kindern ist es nicht immer einfach, aber durchaus machbar.

Anderen Eltern in einer ähnlichen Situation würde ich raten: Zeigen Sie als Eltern dem Kind, dass Sie da sind, egal was ist. Geben Sie Ihrem Kind niemals das Gefühl, dass es nicht in Ordnung ist, wenn es nicht sprechen will. Schenken Sie ihm Geduld und vor allem Zeit mit Ihnen. Schaffen Sie regelmässige Momente mit Ihrem Kind und zeigen Sie ihm, dass auch Sie Ihre Sorgen und Probleme haben, die Sie lösen müssen.

Ich danke allen Lehrpersonen, welche die Kinder so annehmen wie sie sind, auf die Stärken der Kinder bauen und ihre Schwächen mittragen. Wir haben erlebt, dass genau das nicht selbstverständlich ist.

„Für mich als Mutter war auch die eigene Hilflosigkeit schlimm“

Interview mit Frau N.

Liebe Frau N., können Sie uns schildern, wann Sie zum ersten Mal das Gefühl hatten, dass Ihr Kind gemobbt wird? Gab es Anzeichen, die Sie alarmiert haben oder hat Ihr Kind zu Hause davon erzählt? 

Unser Sohn ist anfänglich ab und zu, dann immer häufiger bis täglich nach Hause gekommen und hat erzählt, dass sich fünf Jungs aus seiner Kindergartengruppe gegenseitig anstacheln, um ihn zu verprügeln. Es war eine zunehmende Hilflosigkeit, die in Wutausbrüchen und starker Aggression mündete.

Was haben Sie unternommen, um Ihrem Kind zu helfen? Was hat die Schule getan?

Wir haben unserem Sohn am Anfang gesagt, dass er „stop“ sagen und seine Grenzen den Kindern gegenüber aufzeigen soll. Und ihn aufgefordert, den Vorfall der Kindergärtnerin zu melden, falls seine Grenzen nicht respektiert werden. Wir haben ihm auch gesagt, dass er sich im Notfall wehren dürfe. Allerdings haben wir schnell gemerkt, dass er gegen fünf andere Kinder ja keine Chance hat.

Als es immer schlimmer wurde, habe ich das Gespräch mit der Kindergärtnerin gesucht.
Diese hat die Situation bestätigt und von Problemen in der ganzen Klasse erzählt. Die Kindergärtnerin erklärte, dass die Sprachfertigkeiten, die Frustrationstoleranz und die Autoritätsanerkennung der jüngeren Kinder markant unterentwickelt  seien und sie somit nicht allen Kindern gerecht werden könne. Die jüngeren waren unter-, die älteren überfordert.

Die Kindergärtnerin hat sich dann relativ spät bei der Schulleitung Hilfe geholt und bekam so stundenweise Unterstützung durch eine zweite Lehrperson. Wahrscheinlich war es aber auch ein langer Prozess bis zur Genehmigung und es hat deshalb so lange gedauert. Die zweite Lehrkraft brachte stundenweise Entlastung. Allerdings erfolgte die Massnahme sehr spät und das Problem in der Gruppe wurde schlussendlich dadurch entschärft, dass das Schuljahr zu Ende war, und unser Sohn jetzt eingeschult wurde.

Unser Sohn zeigte irgendwann massives fremdgefährdendes Verhalten bei uns zu Hause, so dass wir uns via Kinderärztin und Kriseninterventionszentrum Hilfe geholt haben. Mittlerweile besuchen wir einmal wöchentlich eine Kinderpsychiaterin.

Was war für Sie besonders belastend?

Das Kind so leiden zu sehen und es jeden Morgen weinend und trotz enormem Widerstand in den Kindergarten zu schicken; Es mittags, wenn es heimkommt zu trösten und ihm das “ Warum“ irgendwie zu erklären; Es abends zu trösten und ihm die Angst vor dem nächsten Tag irgendwie zu mildern; Und vor allem, einen Weg zu finden, sein Selbstwertgefühl wieder aufzupäppeln!

Für mich war auch die eigene Hilflosigkeit schlimm. Ich hatte mir zwischenzeitlich auch überlegt, mit den Eltern der Kinder Kontakt aufzunehmen und ein konstruktives Gespräch zu suchen, hatte jedoch Angst, die Opfer-Täterrollen nur noch zu verstärken und meinem Kind somit mehr zu schaden als zu nützen.

 Was möchten Sie anderen Eltern und Lehrpersonen mit auf den Weg geben?

Jede Situation, jedes Kind und jede Reaktion ist individuell. Ich denke, es gibt kein Rezept. Mir erscheint einfach sehr wichtig, dass man sein Kind, seine Ängste und Nöte ernst nimmt und frühzeitig reagiert. Lieber einmal zu viel bzw. zu früh als zu spät.

Und es ist wichtig, dass man als Eltern hinter seinem Kind steht und es das auch spüren lässt. Dass man beharrlich ist und nicht aufgibt, eine Lösung zu finden.

Sicher ist es auch wichtig, frühzeitig Fachpersonen zu kontaktieren. Hier macht es aber Sinn, solange jemanden zu suchen, bis man sich gut aufgehoben fühlt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mich ältere Fachpersonen mit mehr Berufserfahrung und auch mehr Menschenkenntnis kompetenter begleitet haben.

Mobbing in der Schule – was tun

„Du musst dich halt wehren!“, „Warum hast du das nicht deiner Lehrerin gesagt!?, „Schlag‘ denen doch einfach mal eine rein, dann hören die schon auf!“ : Warum viele gut gemeinte Ratschläge bei Mobbing mehr schaden als nützen, lesen Sie in unserem Fritz + Fränzi Dossier „Mobbing: Und alle schauen weg“.

Wie Eltern bei einem Mobbing-Verdacht reagieren sollten, damit sich die Situation für das betroffene Kind wirklich verbessert, erfahren Sie im Artikel  „Mein Kind wird gemobbt – und jetzt?“

Einen Entwurf für eine Unterrichtsstunde, in der Lehrpersonen ihre Schüler/innen für das Thema „Mobbing“ mithilfe eines Kurzfilms sensibilisieren können, finden Sie hier.

Eine konkrete Anleitung, wie Sie Mobbing als Lehrperson in Ihrer Klasse mittels „No Blame Approach“ auflösen können, erhalten Sie hier.

Aktuell: Weiterbildung „No Blame approach“ für Fachpersonen 2017 in Zürich

Wie Sie Mobbing als Fachperson (Lehrperson, Schulsozialarbeiter/in, Psycholog/in) wirksam auflösen können, erfahren Sie in der 2-tägigen Weiterbildung „No Blame Approach – Mobbingintervention ohne Schuldzuweisung“, welche im Juni (ausgebucht!) und im Oktober 2017 in Zürich angeboten wird. In Kleingruppen von 10 Personen werden Sie vom renommierten Mobbing-Experten Detlef Beck geschult, der zu diesem Anlass in die Schweiz kommt.