Resilienz: wie Geschichten uns stärken können

Der Wunsch nach dem sorglosen Leben

Hätte Harry Potter ein Leben gehabt, das den Wünschen vieler Eltern entspricht, hätte die Geschichte wahrscheinlich auf eine A4-Seite gepasst:

Harry Potter wuchs bei seinen liebevollen Zauberer-Eltern in einem beschaulichen Vorort von London auf. Mit seiner Schwester verstand er sich stets ausgezeichnet. Nachdem er eine Vorschule für Zauberer besucht hatte, kam er mit 11 Jahren bestens vorbereitet nach Hogwarts, wo er viele Freunde fand und ausschließlich von verständnisvollen, warmherzigen Lehrpersonen unterrichtet wurde. Er war ein fleißiger und talentierter Schüler, der nicht nur die Schule mit Bestnoten abschloss, sondern auch sportliche Erfolge erzielte und im Schulorchester mit seinem Oboenspiel einigen Applaus einheimsen konnte. Nur einmal musste seine Mutter resolut eingreifen, als Severus Snape, der Lehrer für Zaubertränke, ihren Sohn ungerecht benotete. Aus dem erfolgreichen Absolventen wurde im Laufe der Jahre ein geachteter Mitarbeiter des Zaubereiministeriums, wo er nach einigen Jahren ein luxuriöses Eckbüro mit separatem Eingang bezog…

Bild Resilienz KinderViele Menschen träumen von solch einem Leben – noch mehr wünschen sie es sich für ihre Kinder. Der Satz „meine Kinder sollen es später gut haben“ spiegelt oft diese etwas klischeehaft überzeichnete Vorstellung wider.

Wenn wir jedoch selbst zurückschauen und uns fragen, was uns als Persönlichkeit geformt hat, woran wir gewachsen sind und worauf wir heute stolz sind, spielen Schwierigkeiten und Herausforderungen eine zentrale Rolle: Es sind die Momente, in denen wir zunächst nicht weiter wussten und dann auf Unterstützung anderer zählen durften oder durch Hartnäckigkeit selbst einen Weg fanden; es ist die Erfahrung, dass wir schmerzhafte Erlebnisse hinter uns lassen konnten und uns von einem Rückschlag erholt haben.

Es ist verständlich, dass man seine Kinder vor jedem Unheil bewahren und ihr Leben in ruhige Bahnen lenken möchte.

Manchmal geht dieses Bestreben jedoch zu weit. Oftmals muten wir unseren Kindern wenig zu und haben vielleicht nicht genug Vertrauen in ihre Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen. Eltern, die selbst mit strengen oder ungerechten Lehrpersonen zurechtkamen, ertappen sich dabei, wie sie die Lehrerin des Kindes wegen einer Kleinigkeit wie einer unpädagogischen Äußerung anrufen. Die Strenge und der etwas raue Umgangston des Sporttrainers werden zum Anlass, das Kind aus dem Verein zu nehmen. Wenn sich das Kind mit der besten Freundin zofft, vermitteln im Hintergrund die Mütter, um die Wogen zu glätten.

Dahinter steckt vielfach der Glauben, dass Kinder zerbrechlich sind, gleich dauerhaft Schaden nehmen, wenn sie einmal ungerecht behandelt werden, eine Enttäuschung wegstecken müssen, eine Freundschaft von einem Konflikt überschattet wird oder ihre Bedürfnisse zu wenig berücksichtigt werden.

Die Forschung aus Psychologie, Neurobiologie und Medizin zeigt jedoch: Kinder sind oft widerstandsfähiger als wir meinen. Und sie kommt zu einem klaren Schluss: Eltern sollten sich nicht darauf konzentrieren, ihren Kindern jeden Stein aus dem Weg zu räumen – sondern sie befähigen, den großen und kleinen Stürmen des Lebens die Stirn zu bieten.

Es gibt Krisen, Belastungen und traumatische Ereignisse, die zu gravierend sind. Sie können Wunden reißen, die nie verheilen und uns geschwächt und verletzt zurücklassen. Vor diesen sollten wir Kinder so gut wie möglich schützen. Auf der anderen Seite erstarkt unser „psychisches Immunsystem“ nur dann, wenn es ab und zu aktiviert wird, wenn Herausforderungen da sind, die unsere Widerstandskräfte mobilisieren. Probleme geben uns die Möglichkeit – im Großen oder Kleinen – der Held unserer eigenen Geschichte zu werden.

Helden sind uns nah, weil wir uns in ihren Schwächen und Zweifeln wiederfinden

Egal ob es sich um Harry Potter, Frodo Beutlin, Luke Skywalker oder Ronja Räubertochter handelt: Wir alle freuen uns über den Sieg unserer Helden, weil wir zuvor mit ihnen gelitten haben.

Heldengeschichten sind ein wichtiger Bestandteil jeder Kultur. Sie berühren uns tief und begleiten uns gerade als Kinder und Jugendliche. Sie widerspiegeln und bestätigen die Hoffnung, dass wir Schwierigkeiten überwinden und daran wachsen können. Deswegen inspirieren sie uns.

Bild Resilienz von Kindern fördern

Jemand, der alles kann und dem alles in den Schoß fällt, ist kein Held. Damit wir heldenhaft mutig sein können, müssen wir zuvor Angst empfinden, mit Unsicherheiten und Zweifeln konfrontiert werden.

Es sind die Schwächen und Bedenken, die Sorgen und Nöte, die es uns ermöglichen, uns emotional mit unseren Helden zu verbinden und von ihnen zu lernen. Sie können Kinder dazu animieren, Herausforderungen anzunehmen, Angst mit Mut zu begegnen, hartnäckig auf ein Ziel hinzuarbeiten, von einem Mentor zu lernen und mit Gefährten durch dick und dünn zu gehen.

Heldengeschichten sind wie eine Schatzkiste, die wir als Eltern und Lehrpersonen öffnen können, um unseren Kindern Werte zu vermitteln und sie darauf vorzubereiten, den Widrigkeiten in ihrem eigenen Leben gegenüber zu treten.

 

Der Stoff aus dem Helden gemacht werden

Uns allen bietet sich im Leben immer wieder die Chance, ein Held zu sein. Wir können uns einer Aufgabe stellen, die uns zu Beginn zu überfordern scheint. Wir können für jemand anderen oder eine Sache einstehen, auch wenn wir mit Widerstand rechnen müssen. Wir können uns behaupten, wenn uns jemand ausnutzen, unterdrücken oder einschüchtern will. Wir können eine schwierige Situation erdulden und innere Größe entwickeln im Umgang mit einem Schicksalsschlag. Heldenhaft ist auch, sich seinen Gefühlen zu stellen, sich verletzlich zu machen und sich einzugestehen, dass es zur menschlichen Existenz gehört, dass man alleine wenig ist und vieles nur gemeinsam schafft.

Helden und Vorbilder können uns dabei unterstützen, diese Herausforderungen anzunehmen.

Wie Helden unseren Kindern beistehen

Wie öffnen wir nun die Schatzkiste, die Heldengeschichten uns bieten?

Wir können unsere Kinder mit Geschichten in Berührung bringen und darauf vertrauen, dass sie ihre kraftvolle Wirkung entfalten. Kinder orientieren sich dabei oft instinktiv an denjenigen Helden, die ihnen ähnlich sind oder mit deren Themen sie sich identifizieren können.

Ich, Stefanie, war eine Schülerin, für die die Sommerferien meist zu lange dauerten. Ich genoss die freie Zeit mit Familie und Freunden, freute mich jedoch immer unbändig, wenn die Schule wieder losging und erneut so viel Interessantes auf mich wartete. Noch heute habe ich Hemmungen, so etwas überhaupt aufzuschreiben. Weil es einfach „uncool“ ist, wenn man gerne zur Schule geht und in den Ferien aus Freude Lateinvokabeln lernt. Während meine Freundinnen und Freunde über meinen Lerneifer schmunzelten, stieß ich bei einigen Mitschülern damit auf Unverständnis und Häme. Auch diversen Lehrpersonen ging meine strebsame Art auf den Geist. Meine Grundschullehrerin meinte in der ersten Klasse: „Stefanie! Diesen Buchstaben kennen wir noch nicht!“ und mein Deutschlehrer auf dem Gymnasium zitierte mich nach einer Schulstunde, in der ich mich wieder einmal eifrig gemeldet hatte, nach vorne: Ich solle mich doch nicht so schnell und häufig melden – ich würde damit die anderen Schülerinnen einschüchtern und demotivieren und sie „mit meiner Blüte erdrücken“. Vielleicht können Sie sich schon denken, wer für mich eine wichtige Heldin war: die strebsame, neunmalkluge und gleichzeitig loyale, mutige und liebenswerte Hermine Granger aus den Harry Potter Büchern. Sie rückte all diese Eigenschaften in ein neues Licht. Sie war ein Trost, wenn meine Wissbegier für Schmunzeln, Stirnrunzeln oder blöde Kommentare sorgte. Und sie machte es salonfähig, eine „Streberin“ zu sein, und gab mir das Gefühl: solche Menschen braucht es auch!

Für mich, Fabian, war Ronja Räubertochter die wichtigste Heldin meiner Kindheit. Ihre Unbeugsamkeit und Unabhängigkeit haben mich berührt und mir vermittelt: Kein Mensch der Welt kann dich zu irgendetwas zwingen. Ronja tut, was sie für richtig hält. Sie folgt ihrem inneren Kompass und bleibt sich treu, auch wenn sich alle gegen sie stellen.

Über Heldengeschichten reden

Sie können einen Schritt weitergehen und mit Ihrem Kind über Heldengeschichten sprechen. Wer war für Sie in Ihrer Kindheit eine wichtige Heldenfigur? Weshalb? Was spricht das Kind an seinen Helden an? Welches Verhalten und welche Momente empfindet es als besonders heldenhaft? Deckt sich das mit Ihrer Sichtweise als Erwachsene/r? Was könnte man aus der Geschichte für sich mitnehmen?

Schauen wir uns dazu einen Teil der Handlung aus Ronja Räubertochter an:

Ronjas Vater fängt Birk, den Sohn des verfeindeten Räuberhäuptlings. Er will den Gegner damit erpressen und diesen zwingen, den Wald zu verlassen. Ronja, die sich mit Birk angefreundet hat, liefert sich dessen Vater aus. Ihrem eigenen Vater bleibt nichts anderes übrig, als Birk freizulassen, um das eigene Kind zurückzubekommen. Der Vater ist zutiefst enttäuscht von seiner Tochter. Er kann ihr den „Verrat“ kaum verzeihen. Die Kinder verlassen die Eltern und ziehen in eine Bärenhöhle im Wald. Räuberhäuptling Mattis vermisst seine Tochter. Diese ist jedoch nur bereit, in die Burg zurückzukehren, wenn ihr Vater die Freundschaft zu Birk akzeptiert.

Solche Stellen bieten sich für Gespräche an, aus denen Kinder wichtige Botschaften mitnehmen können: Warum stellt sich Ronja gegen ihren Vater? Findest du das in Ordnung? Müssen Kinder ihren Eltern nicht gehorchen?

Sie können Ihr Kind auch dazu anregen, das Heldenhafte an Ronja zu verinnerlichen und auf die eigene Lebenswelt zu übertragen: Wann ist es wichtig, sich gegen eine Autoritätsperson aufzulehnen? Bist du auch schon in eine Situation geraten, in der es schwierig war, das Richtige zu tun? Hast du dich schon einmal geweigert, bei etwas mitzumachen, das du nicht gut fandest? Was hilft dir in solch schwierigen Momenten?

Vielleicht haben Sie eigene Erfahrungen, die Sie mit ihren Kindern teilen können? Wo haben Sie Ihr Schicksal in die Hand genommen und sich trotz Widerständen für sich selbst oder eine Sache eingesetzt, anstatt den einfachen Weg zu gehen und sich anzupassen oder über die Umstände oder den Chef zu jammern?

Schwierige Situationen in eine Gelegenheit verwandeln, ein/e Held/in zu werden

Eine Heilpädagogin in unserer Weiterbildung in Lerncoaching begleitete über längere Zeit hinweg ein Mädchen, das angesichts von Vorträgen sehr nervös wurde. Im Vorfeld eines Referats quälten die Primarschülerin viele Sorgen: „Ich kann das nicht!“, „Was ist, wenn ich nicht gut bin?!“, „Was ist, wenn mir nicht mehr einfällt, was ich sagen will?“ Anstatt ihr die Ängste auszureden („Du musst doch keine Angst haben! Das schaffst du sicher!“), half die Heilpädagogin dem Mädchen, die Leistungssituation in einem neuen Licht zu sehen. Sie fragte das Mädchen nach ihren Lieblingsheldinnen, zeigte auf, dass diese vor Herausforderungen auch oft von Selbstzweifeln heimgesucht werden, und erarbeitete mit ihr, dass es beim nächsten Vortrag nicht darum ginge, alles perfekt zu machen, sondern sich der Situation mit heldenhafter Tapferkeit zu stellen. Auf diese Weise wurde die Situation mit einer anderen Bedeutung aufgeladen. Während ein Erfolg vorher gleichbedeutend mit einer guten Note war, bestand das primäre Ziel nun darin, der Angst mit Tapferkeit und Mut entgegenzutreten. In der Schulstunde nach dem Vortrag stürmte das Mädchen mit glänzenden Augen ins Zimmer der Heilpädagogin und rief stolz: „Frau S., Frau S., ich war total tapfer!“ – die Note, die vorher so viel Gewicht gehabt hatte, war in den Hintergrund gerückt.

Welche aktuelle Schwierigkeit Ihres Kindes im sozialen Bereich oder Leistungsbereich könnte als Teil seiner Heldenreise verstanden werden? Wie könnten Sie Ihr Kind dazu ermutigen, sich dieser mit dem Herzen einer Kriegerin oder der Tapferkeit seines Lieblingshelden zu stellen? Welche Fähigkeiten und Tugenden könnte es dabei weiterentwickeln?

In Biografien Trost und Zuversicht finden

Während viele Kinder und Jugendliche das Glück haben, wohlbehütet aufzuwachsen, müssen andere von klein auf mit Armut, Vernachlässigung, Gewalt, Diskriminierung oder mit körperlichen und psychischen Erkrankungen der Eltern zurechtkommen. Kinder und Jugendliche, die sich unter solchen Widrigkeiten auf ihren Lebensweg machen, fühlen sich oftmals isoliert und hoffnungslos. Nicht selten finden sie Trost, Zuversicht und neue Kraft in Geschichten von Menschen, die ähnliches bewältigen mussten:

Vielleicht inspiriert sie der junge Charles Chaplin, der in bettelarmen Verhältnissen aufwuchs; der früh seinen Vater verlor und dessen Mutter, eine Sängerin, mit psychischen Problemen kämpfte, nachdem sie plötzlich ihre Stimme verloren hatte. Die Mutter, die die Familie nicht mehr versorgen konnte, zog mit den Kindern ins Armenhaus. Dort wurden Charles und sein Bruder von der Mutter getrennt. Später avancierte er zu einem beliebten und weltweit bekannten Komiker.

Junge Frauen finden in der beliebten Talkmasterin Oprah Winfrey eine Heldin. Diese wuchs mit ihrer minderjährigen, alleinerziehenden Mutter in ärmlichen Verhältnissen auf und wurde sexuell missbraucht. Nicht zuletzt wegen ihrer unerschütterlichen Natur, ihrem Kampf gegen Rassismus, ihrem Engagement für wohltätige Zwecke und ihrem hart erarbeiteten Erfolg wurde die Talkmasterin zu einem Vorbild vieler Frauen.

Auch die Leichtathletin Wilma Rudolph ließ sich von nichts aufhalten. Sie erkrankte schon früh an Kinderlähmung und erhielt von den Ärzten die Prognose, dass sie auf ihrem gelähmten Bein wahrscheinlich nie wieder wird gehen können. Mit 8 Jahren gelang es ihr erstmals, sich ihrer Krücken zu entledigen. Nur weitere 8 Jahre später qualifizierte sie sich für die olympischen Spiele und holte Bronze im Staffellauf, später dreimal Gold im Sprint. Über ihren Erfolg sagt sie: „Die Menschen sollen mich in Erinnerung behalten als eine Frau, die hart gearbeitet hat“.

Immer wieder stoßen wir auf inspirierende Biografien von Persönlichkeiten, die sich trotz widrigster Lebensumstände ein glückliches und erfolgreiches Leben erkämpft haben. Indem wir solche Geschichten mit bedrückten und niedergeschlagenen Jugendlichen teilen, geben wir ihnen einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass Unheil nicht zwangsläufig von Dauer sein muss. Gespräche über solche reale Helden können auch zum Anlass werden, sich gemeinsam aus etwas Distanz mit der Frage zu beschäftigen, wie diese Menschen „es geschafft haben“ und was ihnen dabei geholfen hat. Wenn es für Jugendliche zu schmerzhaft und beschämend ist, ihren eigenen Nöten direkt ins Auge zu blicken, können sie sich in diesen Persönlichkeiten spiegeln und sich stellvertretend über Bewältigungswege Gedanken machen.

 

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Das Autorenteam

Stefanie Rietzler Fabian Grolimund

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen, Autoren und leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich.