In sich gekehrt – was sensible Kinder brauchen

„Und? Wie war`s heute in der Schule?“

„Schon ok.“

„Was habt ihr gemacht?“

„Weiß nicht mehr.“

„Aha – Hast du Hausaufgaben auf?“

Schweigen.

Kommen Ihnen Dialoge wie diese bekannt vor? Manche Kinder plappern nach der Schule wie ein Wasserfall und möchten ihren Eltern in jedem kleinen Detail von den Erlebnissen des Tages berichten. Andere wirken in sich gekehrt, einsilbig, ja fast ein wenig gereizt, wenn man sich mit ihnen darüber unterhalten möchte. Nicht selten machen sich Eltern deshalb Sorgen. In diesem Zusammenhang fallen oft Sätze wie:

  • „Er erzählt gar nichts aus der Schule.“
  • „Ich kriege kaum mit, was läuft, da muss ich schon andere Eltern ausquetschen.“
  • „Nach der Schule ist sie immer so still.“
  • „Er ist total geladen, wenn er nach Hause kommt. Aber einen Grund kann er mir auch nicht nennen.“

Falls Sie sich über diesen Punkt sorgen, können Ihnen die folgenden Fragen helfen: „Waren diese Ansätze schon immer da? Hat mein Kind auch bereits im Kindergarten wenig von seinem Alltag erzählt? Oder ist es eigentlich eher offen und zieht sich lediglich in letzter Zeit mehr und mehr zurück?“

Wenn Sie als Eltern die Antwort finden: „Früher war das anders.“, dann lohnt es sich, auf Spurensuche zu gehen. Oftmals gibt es in diesem Fall konkrete Auslöser, wenn sich die Stimmung oder Kommunikation stark verändert:  ein Konflikt mit der Freundin, Schwierigkeiten mit der Lehrperson oder Probleme mit dem Schulstoff. Suchen Sie einen ruhigen Moment, in dem Sie mit Ihrem Kind alleine sind und kein Zeitdruck besteht (Sie beispielsweise nicht in absehbarer Zeit zu einem Termin hetzen müssen). Als Gesprächsöffner eignen sich Beobachtungen wie: „In letzter Zeit geht es dir nicht so gut, gell?!“, „Zur Zeit ist es schwierig für dich in der Schule, hm?“, „Mir ist aufgefallen, dass du bedrückt wirkst.“ Vielen Kindern fällt es leichter, über belastendes zu sprechen, wenn das Gespräch beiläufig geschieht: bei einem Spaziergang, einer Autofahrt, beim gemeinsamen Basteln oder am Abend nach der Gute-Nacht-Geschichte. Hören Sie aktiv zu, ohne nachzubohren und lassen Sie Gesprächspausen zu. Konzentrieren Sie sich ganz auf die Beschreibungen Ihres Kindes ohne die „Warum“-Frage zu stellen oder ein mögliches Problem sofort lösen zu wollen, indem Sie vorschnelle Ratschläge geben. Wie das aussehen kann, zeigt der folgende Film mit dem kleinen Biber:

Vielleicht fällt ihnen aber auch auf, dass Ihr Kind nach dem Kindergarten, dem Sportkurs oder der Schule schon immer etwas einsilbig war. Bei näherem Hinsehen erkennen wir oftmals ein Muster, eine Gemeinsamkeit zwischen diesen Kindern. Sie sind eher introvertiert, werden in größeren Gruppen rasch unruhig und reagieren sensibel auf Lärm und Trubel. Nach einem Schultag, an dem sie sich über mehrere Stunden hinweg „zusammengerissen“ haben, ist ihr Energietank schlichtweg leer.

Wenn wir nicht gerade selbst als Lehrperson arbeiten, können wir uns oftmals gar nicht vorstellen, wie sehr die Bedingungen in der Schule die Kinder fordern, welch große Anpassungsleistung ihnen abverlangt wird.

Ich (Stefanie) erinnere mich noch gut an eine meiner ersten Schulhausweiterbildungen zum Thema „Kinder mit ADHS erfolgreich unterrichten“. Als notorische „Pünktlichkeitsfanatikerin“ wollte ich ja nicht zu spät kommen und traf gute neunzig Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt im Schulhaus ein. Die Rektorin, eine energische, aber gleichzeitig äußerst sympathische Mittfünfzigerin, schlug mir vor, mich mit dem Schulhaus vertraut zu machen: „Statten Sie doch einfach meinen Lehrpersonen einen Besuch ab und lernen Sie unsere Schule kennen.“ Ich war neugierig – schließlich lag meine eigene Schulzeit, die von Frontalunterricht gekennzeichnet war, eine ganze Weile zurück. („Wenn alles schläft und einer spricht, nennt man das Unterricht“, pflegte mein Deutschlehrer stets zu sagen).

Als ich das Klassenzimmer der Dritten betrat, staunte ich nicht schlecht: Wie geschäftig es hier zu und her ging! In einer Ecke arbeitete die schulische Heilpädagogin leise flüsternd mit zwei Kindern an Schreibübungen. Bald klopften einmal der Logopäde, wenig später die Psychomotoriktherapeutin, und dann die integrative Förderlehrperson, um einzelne Kinder abzuholen. „Was für ein Durcheinander! Gar nicht so leicht, sich bei dieser Unruhe zu konzentrieren.“, dachte ich bei mir und zog den Hut vor allen Schüler/innen, die eifrig über ihren Arbeitsblättern brüteten. Mittlerweile habe ich hunderte von Unterrichtsbesuchen hinter mir und muss beinahe ein wenig über meine damalige Einschätzung schmunzeln: im Nachhinein war diese Klasse ein absolutes Positivbeispiel für ruhiges und konzentriertes Arbeiten.

Klar ist: der Lärmpegel und das geschäftige Umtreiben in einer Klasse mit 20 bis 25 Kindern sind enorm – auch wenn es eine liebevolle und gleichzeitig strenge Führung gibt.

Klasse Lärm

Sensible Kinder verfügen über feine Antennen für die Geräusche, die Lichtverhältnisse und die Bewegungen im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof. Die Bedingungen im Schulalltag versetzen sie daher oftmals in einen andauernden Stressmodus. Um sich auf den Unterricht und die anderen Kinder einlassen zu können, müssen sie sich selbst regulieren – eine energieraubende Angelegenheit. Gleichzeitig fehlen ihnen wichtige Rückzugsorte. In der Pause muss das Schulzimmer verlassen werden. Alle Schüler sollen nach draußen, um sich auszutoben. Diese Regel ist gut gemeint: Bewegungspausen tragen zur Erholung bei und fördern die Konzentration. Gleichzeitig entwickelt sich die Sozialkompetenz der Kinder im freien Spiel. Für manche Schüler/innen ist diese vermeintliche Pause auf dem Schulhof alles andere als erholsam. Der Rummel erschöpft sie. Ihnen wäre vielleicht mehr damit geholfen, wenn sie in der Bibliothek in aller Ruhe in einem Comic schmökern oder ein paar Minuten aus dem Fenster schauen und vor sich hin träumen dürften.

Hochsensible Kinder brauchen Pausen

Kurzum: Für diese Kinder gleicht der Schulalltag einem regelrechten Kraftakt. Dies wurde mir (Stefanie) erst kürzlich wieder vor Augen geführt:

Bei einer Schulhausweiterbildung lud mich das Hortpersonal zum Mittagessen ein. Als ich die schwere Eingangstüre öffnete, sah ich bereits, wie die Kinder an langen Tischen zusammen saßen und einmütig vor sich hin mampften. Eine Gruppe von Mädchen steckte kichernd die Köpfe zusammen und hielt aufgeregt die Arme nebeneinander, um zu entscheiden, wer in den Ferien am meisten Farbe abbekommen hatte. Vier Jungen übten sich im Kräftemessen und gaben sich jeweils einen harten Fausthieb in den Oberarm, wenn der andere gerade nicht hinsah. Am Ende des Tisches stritten zwei Buben lautstark darüber, ob nun Darth Vader oder Darth Maul die beste Figur in Star Wars sei. Schräg gegenüber zwei Mädchen, die vergnüglich ein Liedchen anstimmten, das sie wahrscheinlich heute im Englischunterricht gelernt hatten. Es dauerte einen Moment, bis ich die Hortnerinnen erspähte. Inmitten einer Traube von Kindern, die „noch Hunger hatten“, das Essen heute „eklig“ fanden oder noch ganz dringend  etwas erzählen wollten.

Während sich die anderen Kinder ihre Bäuche vollschlugen, saßen ein Mädchen und ein Junge schweigend am Tisch – vor ihnen  die vollen Teller. Das Besteck wartete unangerührt auf seinen Einsatz.  Beide fixierten geistesabwesend einen Punkt an der Wand und starrten vor sich hin. „Wie unter einer Käseglocke.“, dachte ich damals. Als die meisten Kinder bereits in den Hausaufgabenraum wechselten, um ihre Aufgaben zu erledigen, wurde es langsam ruhiger. Und siehe da – die beiden erwachten aus ihrer Trance und begannen, in Seelenruhe zu essen. Es wurde kein Wort gewechselt.

Werden sensible Kinder überreizt, verlagert sich ihr Fokus oftmals nach innen. Sie schützen sich selbst, indem sie versuchen, alle stressverursachenden Reize auszublenden. In der Folge wirken sie abwesend und bekommen nur noch wenig von der Außenwelt mit. Konfrontiert man sie in diesen Momenten selbst mit einfachen Aufgaben („Ziehst du noch Schuhe und Jacke an?“) oder möchte man eine noch so kleine Entscheidung von ihnen („Willst du gleich hier sitzen oder lieber da drüben?“), fühlen sie sich oft völlig erschlagen und können dem kaum nachkommen.

Als Eltern eines sensiblen Kindes können Sie die Bedingungen in der Schule abgesehen von kleinen Anpassungen kaum verändern. (Dazu gehören beispielsweise Gehörschutz für die Stillarbeit oder ein Platz am Rand in der Umkleide bzw. beim Mittagessen im Hort). Zu Hause können Sie sich viel stärker auf die Besonderheiten Ihres Kindes einlassen und ihm wichtige Ruheoasen verschaffen. Diese sind besonders wichtig, damit sich Ihr Kind erholen und wieder ins Gleichgewicht kommen kann.

In meiner Arbeit mit Familien kommt oftmals das Bild einer Batterie zum Einsatz. Gemeinsam fragen wir uns:

  • „Was entzieht meinem Kind Energie? Wann und wobei geht es an die Energiereserven?“

und gleichzeitig:

  • „In welchen Momenten und bei welchen Aktivitäten kann es wieder aufladen?“

Sieht Ihr Kind beim Nachhauseweg still und in Gedanken versunken aus dem Fenster? Dann könnten Sie sich bewusst machen, dass Sie ihm einen Moment schenken, in dem es die vielen Eindrücke des Tages verarbeiten kann.

Spüren Sie, dass Ihr Kind beim Mittagessen kaum auf Ihre Fragen reagiert? Dann können Sie sich bewusst zurücknehmen und etwas sagen wie: „Ich glaube, du brauchst einen Moment deine Ruhe.“ Und darauf warten, bis Ihr Kind dazu bereit ist, das Gespräch wieder aufzunehmen.

Gerade nach trubeligen Aktivitäten (Schule, Sportverein, großer Kindergeburtstag etc.) brauchen diese Kinder oftmals einen Weile, um ihren Energietank wieder aufzufüllen. Wenn sich Ihr Kind von selbst an einen ruhigen Ort zurückzieht, um etwas zu lesen, zu malen oder in Ruhe sein Legotechnik-Weltraumschiff weiterzubauen, dann dürfen Sie sich freuen: Ihr Kind hat ein Gespür dafür entwickelt, was ihm gut tut und handelt danach.

Vielleicht möchten Sie auch einen kritischen Blick auf den Tagesablauf Ihres Kindes werfen: Wo gibt es unverplante Phasen? Hat das Kind genügend Erholungsphasen und Zeit für sich? Gibt es nach der Schule die Möglichkeit, erst einmal herunterzukommen oder muss es nach dem Essen gleich weiterhetzen zum Sport oder Musikunterricht? Schläft Ihr Kind genug? Achten Sie bewusst auf Rückzugszeiten, in denen Ihr Kind wirklich abschalten kann.

Biber_5Dies gilt auch, wenn Ihr Kind auf ein Zuviel an Lärm und Hektik emotional gereizt reagiert. Oftmals helfen hier bereits kleine Auszeiten, wie das folgende Beispiel erkennen lässt:

Ein junger Mann mit Aufmerksamkeitschwierigkeiten suchte gemeinsam mit seiner Freundin eine Paarberatung auf. Seitdem er einen neuen Job mit mehr Kundenkontakt angenommen hatte, kam er nach der Arbeit stets gereizt nach Hause. „Ich merke dann schon, dass er kurz davor ist, zu explodieren, wie er Streit sucht. Er meckert an allem herum und man kann ihm nichts recht machen.“ Dem jungen Mann war bewusst, dass ihn die Anforderungen seines Arbeitstages jeweils „unter Strom“ setzten. Auch kommunizierte er offen, dass er sich manchmal nicht anders zu helfen wusste, als sein angestautes Unbehagen an seiner Partnerin auszulassen. Nach einigen Wochen entspannte sich die Beziehung zwischen den beiden schließlich. Sie hatten selbst eine clevere Lösung gefunden: Während der junge Mann bisher mit dem Bus zur Arbeit und zurück gefahren war, nahm er nun das Fahrrad. Sein Fazit: „Wenn ich mehrere Kilometer vor mich hin strample, kann ich meinen Kopf auslüften und der meiste Stress ist schon verflogen, wenn ich zu Hause ankomme.“

Die Forschung gibt ihm recht: Bewegung dämpft die Stressreaktion unseres Körpers und wird bei einer Vielzahl von Auffälligkeiten im emotionalen Bereich als wichtiger therapeutischer Baustein eingesetzt. In diesem Zusammenhang kommt auch regelmäßigen Mahlzeiten und ausreichend Schlaf eine große Bedeutung zu.

Das Wichtigste in Kürze:

Wenn wir sensible Kinder unterstützen möchten, können wir:

  • uns bewusst machen, wie viel Energie sie Aktivitäten in Gruppen (Unterricht, Sportverein, Einkaufen gehen etc.) kosten
  • die Umgebung kritisch unter die Lupe nehmen und beispielsweise Gehörschutz einsetzen und Rückzugsorte schaffen, in denen das Licht gedimmt ist und weniger Enge und Lärm herrscht
  • Erholungsräume nach der Schule und nach Gruppenaktivitäten einplanen
  • das Freizeitprogramm bewusst entschlacken
  • Gesprächspausen und Momente des stillen Zusammenseins zulassen
  • für genügend Bewegung, regelmäßige Mahlzeiten und ausreichend Schlaf sorgen

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Stefanie Rietzler Fabian Grolimund

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen und leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Sie sind Autoren folgender Bücher: