Stärken erkennen und fördern

Wenn Kinder in einem Fach oder in der Schule insgesamt Schwierigkeiten haben, geraten Kind und Eltern oft in eine Negativspirale.

Zu Beginn steht meist die Erwartung, dass sich das Problem lösen wird, wenn sich das Kind mehr anstrengt oder man schlicht etwas zuwartet, bis sich der Knoten löst.

Teilweise erfüllt sich diese Hoffnung. Teilweise aber auch nicht – zum Beispiel, weil das Kind tatsächlich eine Lese-Rechtschreib- oder eine Rechenschwäche hat und im jeweiligen Bereich nur mit grosser Mühe kleine Fortschritte machen kann.

Nun dringt die Schwäche des Kindes zunehmend in den Familienalltag ein und nimmt immer mehr Raum ein: Der Vater übt mit der Tochter Diktate, die auch nach dem fünften Durchgang mit Fehlern übersät sind. Die Mutter brütet mit der Tochter am Wochenende über dem Mathe-Buch und verzweifelt, weil einfach nichts hängenbleibt und keine noch so bildliche Erklärung zu einem Aha-Erlebnis führen will.

Bald kommt die Angst ins Spiel. Die Eltern machen sich Sorgen, dass die anderen am eigenen Kind vorbeiziehen, dass es den Anschluss verliert. Die Anstrengungen werden nochmals ausgeweitet, der Druck auf Eltern und Kind steigt. Erste Hobbys werden gestrichen, um mehr Zeit für das Lernen aufwenden zu können.

Nun beginnen sich die Kinder mehr und mehr zu verschliessen. Sie bekommen einen Kloss im Hals, wenn sie die Aufgaben nur schon sehen. Erste Tränen kullern. Die Eltern trösten, werden aber auch immer häufiger wütend, wenn das Kind nicht kooperiert. Es tauchen Zweifel an der Motivation des Kindes auf: Wenn es doch nur wollen würde, dann wäre alles einfacher.

Mit der Zeit macht sich die Hilflosigkeit breit. Das Kind fühlt sich dumm, die Eltern sind ratlos: „Was sollen wir denn noch machen? Wir haben doch schon alles versucht!“

Für manche Kinder wird das Leben in dieser Phase fast unerträglich. Sie werden in der Schule und zu Hause permanent mit ihrer Schwäche konfrontiert. Es wird nicht nur zusätzlich geübt – die Probleme des Kindes bestimmen auch immer mehr die Gespräche in der Familie. Das Kind erlebt dies als permanente Abbuchungen von seinem „Selbstwert-Konto“.

Mit jeder schlechten Note, mit jeder Aufgabe, an der man scheitert und die den anderen leicht zu fallen scheint, mit jedem:

  • „Jetzt pass doch auf.“
  • „Das haben wir doch geübt!“
  • „Wieso hast du das jetzt wieder falsch geschrieben?“
  • „Warum will das nicht in deinen Kopf?“

verliert das Kind etwas mehr von seinem Selbstvertrauen, seinem Selbstwertgefühl und seiner Lebensfreude.

Manche Kinder wirken durch diese Erfahrungen mit der Zeit so desinteressiert, unmotiviert, müde und freudlos, dass die Eltern das Gefühl haben: Mein Kind hat kaum Stärken und Interessen. Wenn wir in dieser Situation nachfragen, was das Kind besonders gut kann, kommen oft Aussagen wie: „Na gut, Sport – aber damit kann man auch kein Geld verdienen.“ oder „Sie malt sehr gerne – aber wenn sie sich in der Schule nicht mehr Mühe gibt, kann sie später doch sowieso nicht machen, was sie will.“

Doch wie kann man mit der Schwäche eines Kindes umgehen? Was ist wirklich hilfreich? Fünf Punkte erscheinen uns besonders wichtig:

  1. Befassen Sie sich eingehend mit der Frage, wie ein Kind bei einer bestimmten Schwäche am schnellsten Fortschritte machen kann. Ineffiziente Methoden lassen das Lernen für Eltern und Kind zur Tortur werden. Zu oft schreiben Eltern stundenlang Diktate, obwohl dies praktisch keinen Nutzen hat oder lassen das Kind Rechenaufgaben „lösen“, die es aufgrund früherer Lücken gar nicht verstehen kann.
  2. Beschränken Sie die Zeit, die für das Üben aufgewendet wird. Das Motto von unserem Buch „Mit Kindern lernen“ lautet: 10 Minuten pro Tag am richtigen Ort mit wirksamen Übungen. Geben Sie der Schwäche ihren Platz und klammern Sie das Thema in der restlichen Zeit aus.
  3. Achten Sie auf kleine, individuelle Fortschritte Ihres Kindes. Es wird lange dauern oder vielleicht nie passieren, dass sich die Note in einem Problemfach verbessert. Damit das Kind dennoch bereit ist zu üben, benötigt es Bezugspersonen, die ihm zeigen: Du machst Fortschritte. Diese Verbesserungen hast du erreicht, weil du übst – und wir freuen uns sehr darüber und sind stolz auf deine Anstrengungen.
  4. Begleiten Sie Ihr Kind durch Misserfolge hindurch. Mehrere Möglichkeiten dazu finden Sie in unserem Artikel „Wie Kinder lernen können mit Misserfolgen umzugehen.
  5. Schaffen Sie Raum und Zeit für die Interessen und Stärken Ihres Kindes – egal ob Ihnen diese „sinnvoll“ oder „wichtig“ scheinen. Warum dieser Punkt so bedeutsam ist, erfahren Sie in diesem Artikel.

Stärken leben fördert die Selbstwirksamkeit

In einer kleinen, aber spannenden Untersuchung von Prof. Krapf teilten Lehramtstudierende der Uni Zürich schulisch schwache Kinder in zwei Gruppen ein. Die eine Gruppe erhielt Nachhilfeunterricht für ihre Problemfächer, die andere wurde in den Bereichen gefördert, in denen sie eine Stärke hatten.

Das spannende Resultat: Die Förderung in den starken Bereichen wirkte sich auf die Leistungen in den Problemfächern aus. Diese Gruppe zeigte am Ende in den Problemfächern sogar bessere Leistungen als die Gruppe, die Nachhilfe für ihre Problemfächer erhielt.

Die Untersuchung ist methodisch zu schwach, um die Ergebnisse zu verallgemeinern. Aber sie spiegelt eine Erfahrung wieder, die wir in der Praxis auch machen konnten: Wird einem Kind ein geliebtes Hobby gestrichen, um mehr Zeit für die Schule und das Üben zu gewinnen, verlieren die Kinder jegliche Motivation. Gleichzeitig führen Erfolgserlebnisse und die Erfahrung, etwas zu können, zu mehr Energie, mehr Selbstvertrauen und der Überzeugung, auch mit Schwierigkeiten umgehen zu können.

Im Sport oder beim Spielen ihres Instruments können Kinder lernen, dass die Übung eng mit Fortschritten verknüpft ist. Diese Grunderfahrung lässt sich oft auch auf das schulische Lernen übertragen.

Aber auch andere Erfahrungen können Kindern ein Gefühle von Stärke und Selbstwirksamkeit vermittelt. So zeigten Studien, dass Jugendliche, die sich ehrenamtlich für eine gute Sache einsetzen, in der Schule erfolgreicher sind und eine höhere intrinsische Arbeitsmotivation aufweisen.

Wenn Eltern ihr Kind dabei beobachten können, wie es in einem Hobby, im Sport, in der Musik oder in einer ehrenamtlichen Tätigkeit aufgeht, Verantwortung übernimmt und seine Fähigkeiten unter Beweis stellt, können auch sie ihr Kind wieder von einer anderen Seite erleben. Sie können wieder Vertrauen schöpfen, dass es einen Platz geben wird, in dem die Fähigkeiten des Kindes gefragt sind. Diese optimistische Grundhaltung überträgt sich auch auf das Kind.

Stärken bewahren die Lebensfreude

Wie bedrückend es für Kinder sein kann, von einer Lernstörung betroffen zu sein, zeigen mehrere Studien. Kinder mit einer Lese-Rechtschreib- oder Rechenstörung entwickeln häufiger Ängste, Depressionen und denken öfter über Suizid nach. Es ist daher bitter nötig, dass diese Kinder auch ihre Stärken wahrnehmen und leben dürfen. Dabei kann es sich auch um positive Charaktereigenschaften handeln.

Vertreter der Positiven Psychologie haben einen Charakterstärken-Test entwickelt. Dieser gibt nicht in erster Linie Auskunft über Fertigkeiten oder Talente, sondern über positive Charaktereigenschaften, die dabei helfen, ein glückliches, sinnvolles und erfolgreiches Leben zu führen – zum Beispiel Neugier, Ausdauer, Freundlichkeit, Führungsvermögen, Dankbarkeit oder Humor.

Martin Seligman beschreibt in seinem Buch „Flourish – wie Menschen aufblühen“ mehrere Studien, die zeigen, dass das Ausleben-Dürfen von Charakterstärken das Wohlbefinden von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erhöht.

In einer Schule durften die Schüler/innen den Charakterstärken-Test ausfüllen und erfuhren dabei, welche positiven Charaktereigenschaften sie am meisten auszeichnen. Seligman beschreibt diese als Signaturstärken. Eine Schulstunde pro Woche wurde der Frage gewidmet, wie die Kinder diese Signaturstärken im Alltag ausleben können. Auch hier zeigte sich: Nicht nur das Wohlbefinden der Kinder stieg an, auch die Schulleistungen verbesserten sich.

Stärken tragen zur Identitätsbildung und Berufsfindung bei

Es ist wichtig, dass Kinder bestimmte Grundfertigkeiten im Rechnen, Lesen und Schreiben erlernen und es ist zentral für den weiteren Lebensweg, dass in diesen Bereichen eine gute Förderung stattfindet. Dabei darf aber nicht vergessen gehen, dass Kinder später ihren Beruf auf ihren Stärken aufbauen werden.

Wird jedoch nur auf die Schwächen fokussiert, wissen Kinder später auf die Frage, was sie gut können, was sie auszeichnet und was ihnen Freude bereitet keine Antwort. Es wäre jedoch gerade für Kinder, die schulisch schwach sind, besonders wichtig, dass sie auf diese Frage konkrete, klare Antworten haben.

Es gibt so viele Berufsfelder, in denen Stärken zum Tragen kommen können, die in der Schule keine Rolle spielen. Lassen Sie uns einige aufzählen:

Verkauf: Wer gut verkaufen kann, findet einen Job. Tausende von Produkten wollen an Frau und Mann gebracht werden und wer sich für eine Sache begeistern und andere mitreissen kann, wird gefragt sein.

Dienstleistung: Der Dienstleistungssektor ist mittlerweile der grösste Arbeitssektor. In diesen Berufen ist Kundenorientierung, Einfühlungsvermögen, Freundlichkeit und eine offene, gewinnende Art wichtiger als Rechtschreibkenntnisse.

Design: Egal ob als Grafikerin, Mediamatiker, Webdesigner, Innendekorateurin, Schaufensterdekorateur, Modedesigner oder Visagistin – bei vielen Berufen ist ein Auge für Ästhetik, ein Gefühl für Farben und Formen, feinmotorisches Talent und Freude an neuen Trends zentral.

Handwerk: Handwerkliches Geschick, eine Faszination für bestimmte Materialien wie Holz oder Metall, eine Liebe zu Autos, die Freude am Tüfteln, Schrauben und einem handfesten Ergebnis bilden die Grundlage für viele Berufe wie Schreiner, Mechaniker, Uhrmacher oder Goldschmied.

Die Aufzählung liesse sich beliebig erweitern.

Lehrmeister und Ausbildnerinnen wollen spüren können: Die/der Auszubildende brennt für den Verkauf, für die Arbeit mit Tieren, fürs Tüfteln. Er oder sie liebt die Arbeit mit Menschen in der Pflege oder Kinderbetreuung.

Dies gelingt jedoch nur, wenn das Kind in seiner Entwicklung herausfinden kann, wo seine Interessen sind und welche besonderen Stärken es mitbringt. Arbeitet man vorwiegend daran, die Schwächen des Kindes auszumerzen, hat man am Ende nicht selten einen freudlosen, desinteressierten und (wie man in der Schweiz zu sagen pflegt) „abgelöschten“ Jugendlichen vor sich, der sich selbst nicht kennt, nicht weiss, was er will und seine schulischen Schwächen kaum durch Sach- und Fachkenntnisse, Begeisterung und positive Charaktereigenschaften wettmachen kann.

Manchmal sagen uns Eltern, dass diese Dinge heute nichts mehr gelten. Das stimmt nicht: Ein schlechtes Zeugnis erschwert den Einstieg in das Berufsleben. Aber Fertigkeiten, Charakter, Teamfähigkeit, gute Umgangsformen, Zuverlässigkeit, Begeisterung für die Arbeit und ein positives Auftreten zählen heute noch genauso viel wie früher – das wird Ihnen jeder Lehrmeister bestätigen.

Helfen Sie Ihrem Kind, sich und seine Stärken kennenzulernen

Was kann Ihr Kind besonders gut? Welche positiven Charaktereigenschaften zeichnen es aus? Was interessiert es besonders?

Es ist gar nicht so einfach, diese Fragen zu beantworten. Einige Hilfsmittel, die wir im folgenden vorstellen, helfen dabei.

Fragebögen nutzen

Wie bereits erwähnt hat die Positive Psychologie einen Charakterstärken-Fragebogen entwickelt. Dieser kann auf der Webseite der Universität Zürich kostenlos online ausgefüllt werden. Im Anschluss erhält man eine individuelle Auswertung. Der Fragebogen liegt in einer Version für Kinder ab 10 Jahren sowie für Erwachsene vor.

Wenn Sie wissen möchten, welche Talente Ihr Kind hat, können Sie unseren Stärke-Fragebogen nutzen.

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Das Ausfüllen eines Fragebogens und ein anschliessendes Gespräch über die eigenen Stärken ist eine schöne Sache. Möchte man Kinder nachhaltig stärken, ist jedoch mehr nötig.

Die Stärken im Alltag verankern

Stärken entwickeln sich, wenn sie gelebt werden. In den Studien zu den Charakterstärken erhielten die Kinder jede Woche kurz Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen, wie sie ihre Stärken im Alltag einbringen können, sich gegenseitig von Erlebnissen zu erzählen und sich konkrete Ziele zu setzen.

Als Eltern können Sie:

  • Regelmässig mit Ihrem Kind über seine Stärken sprechen.
  • Interesse an Bereichen zeigen, für die sich ihr Kind begeistern kann, indem Sie Fragen dazu stellen oder solche Momente mit dem Kind teilen.
  • Das politische oder soziale Engagement eines Jugendlichen ernst nehmen.
  • Das Kind mit Gleichgesinnten zusammenbringen – über Vereine, Kurse, Veranstaltungen, Conventions etc.
  • Mitfiebern und Mitfeiern, wenn das Kind zum Beispiel an einem Wettkampf teilnimmt, ein Turnier bestreitet oder mit dem Instrument etwas vorspielt.
  • Das Kind unterstützen, indem Sie es auf spannende Informationen (Artikel, Zeitschriften, Bücher, Filme) zu seinem Lieblingsthema hinweisen und es bei Neuanschaffungen zu Sport und co. auch finanziell unterstützen.

Wertvoll ist dazu auch die „Was-ist-gut-gelaufen-Übung“ aus der Positiven Psychologie. Bei dieser sprechen Sie mit dem Kind jeden Abend darüber, was es Schönes erlebt hat. Wie das aussehen kann, zeigt der folgende Film:

Sie können auch als Elternteil am Abend aufschreiben, was Ihnen positiv an Ihrem Kind aufgefallen ist oder was Ihnen heute an Ihrem Kind Freude bereitet hat. Sie können zum Beispiel unser Stärkentagebuch nutzen, um dies festzuhalten. Bei unserem Online-Kurs „Mit Kindern lernen“ ist dies die erste Übung, die die Eltern erhalten. In unserer Evaluation dazu haben uns viele Eltern zurückgemeldet, dass alleine diese Übung ihren Blick geweitet hat und einen positiven Effekt auf das Kind hatte.

Schulzeit meistern – trotz Lernschwierigkeiten

Damit möglichst viele Kinder trotz Lernschwierigkeiten eine glückliche, erfolgreiche Schulzeit erleben können, benötigen sie Eltern und Lehrpersonen, die ihnen mit wirksamer Unterstützung zur Seite stehen, ihre Stärken sehen und sie bei Misserfolgen auffangen. Viele konkrete Tipps dazu erhalten Sie in unseren Büchern „Mit Kindern lernen“ und „Erfolgreich lernen mit ADHS“.

Das Buch „Mit Kindern lernen“ zeigt, wie Sie Lücken im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen bei Kindern entdecken und mithilfe kurzer, wirksamer Übungen aufarbeiten können. Darüber hinaus bietet es Eltern konkrete Anregungen, um Widerstände gegen das Lernen abzubauen und dem Kind zu selbstständigem und motiviertem Arbeiten zu verhelfen.

Der Stärkenfragebogen ist aus unserem Ratgeber „Erfolgreich lernen mit ADHS“ entnommen. Zwei Kapitel widmen sich der Frage, wie Eltern das Selbstvertrauen ihres Kindes stärken und seine Stärken im Alltag fördern können. Daneben finden sich darin viele praktische Tipps zu den Themen Konzentration, Motivation, Ausdauer und Selbstorganisation.

 

Unsere Angebote

Für Eltern: „Resilienisch“ – ein Sprachkurs für innere Stärke (Resilienz in der Familie)

Für Fachpersonen: Weiterbildung in Lerncoaching