Wie Kinder lernen können mit Misserfolgen umzugehen
Rückschläge und Misserfolge gehören beim Lernen und Arbeiten dazu. Je besser ein Kind lernt, damit umzugehen, desto entspannter und konzentrierter kann es lernen. Als Mutter oder Vater können Sie einiges tun, um dem Kind Zuversicht zu vermitteln, sein Selbstvertrauen im Umgang mit Anforderungen zu stärken und sein Selbstwertgefühl bei Rückschlägen und Misserfolgen zu schützen.
Zeigen Sie Verständnis für die Enttäuschung des Kindes
Maria kommt von der Schule nach Hause. Als sie das Wohnzimmer betritt, sieht ihre Mutter gleich, wie bedrückt sie aussieht. Sie hat im Diktat schon wieder eine schlechte Note – trotz des vielen Übens.
Ihre Mutter nimmt sie in den Arm und fragt: „Was ist denn los?“
Maria schaut bedrückt zu Boden und sagt unter Tränen: „Ich war schon wieder schlecht im Diktat! Alles ist rot und der Lehrer meinte, ich müsste mich besser vorbereiten.“
Ihre Mutter ärgert sich insgeheim über den Lehrer. Schliesslich hat sie das Diktat fünf Mal mit Maria geübt. Sie reisst sich zusammen und sagt: „Komm Maria, das ist doch nicht so schlimm. Es ist doch nur ein Diktat.“
Maria windet sich aus der Umarmung und verschwindet in ihr Zimmer.
Wenn Kinder enttäuscht sind, benötigen sie zuerst einmal Verständnis. Es ist jedoch gar nicht so einfach, Verständnis zu zeigen, da wir es oft mit Trost oder Ablenkung verwechseln oder glauben, dass Verständnis dazu führen würde, dass sich das Kind nicht mehr anstrengt.
Die Antwort von Marias Mutter ist gut gemeint. Aber wie fühlen wir Erwachsene uns, wenn jemand auf diese Weise versucht, uns zu trösten?
Nehmen wir an, Sie kommen nach einem frustrierenden Erlebnis nach Hause, erzählen es dem Partner und der sagt als Erstes: „Das ist doch nicht so tragisch.“ Er meint es gut und möchte Sie aus Ihrem emotionalen Tief herausholen. Aber wie reagieren Sie?
Sie werden ihm erklären wollen, warum das sehr wohl enttäuschend für Sie ist. Sie werden sich in Ihrem Frust nicht verstanden, nicht angenommen fühlen. Vielleicht werden Sie sogar wütend und haben das Gefühl, dass er Sie gar nicht ernst nimmt.
Kinder können mit negativen Gefühlen umgehen. Wir müssen sie nicht gleich davor retten oder sie davon ablenken. Verständnis zeigen wir dann, wenn wir versuchen, die Gefühle des Kindes nachzuvollziehen und ihm dabei helfen, diese auszudrücken. Das könnte wie folgt aussehen:
Mutter: „Was ist denn los?“
Maria: „Schon wieder ungenügend im Diktat!“
Mutter: „Bist enttäuscht, hm…?“
Maria: „Ich habe so viel geübt!“
Mutter: „Ich weiss – du hast dir wirklich Mühe gegeben. Willst du es mir zeigen oder möchtest du zuerst etwas anderes machen?“
Die Mutter zeigt der Tochter auf diese Weise, dass diese enttäuscht sein darf, sie dieses Gefühl versteht und sie für sie da ist, wenn sie dies möchte.
Fragen Sie das Kind, was es braucht
Während manche Kinder über einen Misserfolg reden möchten, ist es anderen lieber, wenn sie sich ablenken dürfen oder einfach eine Umarmung bekommen.
Wenn Ihr Kind frustiert ist, können Sie ihm Vorschläge machen. Der Vater von Maria fragt seine Tochter: „Willst du einen Spaziergang mit mir machen oder ein wenig spielen, bis es dir wieder besser geht?“
Sie können das Kind auch fragen: „Was würde dir jetzt gut tun?“
Akzeptieren Sie die Antwort. Gerade Mütter meinen oft, es sei am besten, wenn man darüber redet. Aber Kinder – vor allem Jungs – möchten oft lieber eine Runde gamen als sich lang und breit mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen.
Entwickeln Sie ein Ritual für den Umgang mit Misserfolgen
Sehr hilfreich für den Umgang mit Misserfolgen sind Rituale. Gerade die angepassten, eher ängstlichen und fleissigen Kinder sind oft sehr damit beschäftigt, wie ihre Eltern reagieren werden, wenn sie mit einer schlechten Note nach Hause kommen.
Ein Ritual bietet dabei Sicherheit: Das Kind weiss, was passieren wird und kann sich darauf einstellen.
In einem Elternkurs zum Thema Rechenschwäche stellte ich den Eltern die Frage, wie sie ihre Kinder dazu motivieren können, sich trotz der vielen Misserfolge immer wieder auf das Rechnen einzulassen. Eine Mutter meinte: Ich erwarte von meiner Tochter, dass sie 10 Minuten pro Tag mit mir übt – da bin ich eisern. Wenn sie mit einer Rechenprüfung nach Hause kommt und eine genügende Note erreicht hat, gehen wir zusammen ein Siegereis essen. Auf meine Frage, wie sie bei einer ungenügenden Note reagiert, antwortete sie: „Dann gehen wir ein Trosteis essen! Ich will, dass meine Tochter weiss, wie sehr ich es schätze, dass sie sich immer wieder auf das Üben einlässt und dass sie spürt: Bei Erfolgen freuen wir uns mit dir – bei Misserfolgen fangen wir dich auf.“
Eine solche Philosophie schützt das Selbstwertgefühl von Kindern auch bei häufigen Rückschlägen und motiviert das Kind zudem beim Üben dranzubleiben.
Vermitteln Sie Zuversicht
Eltern, die zuversichtlich sind, zeigen dem Kind, dass sie an dessen Möglichkeiten glauben. Kinder nehmen ihre Eltern als gross, weise und kompetent wahr. Umso bedrohlicher ist es für ein Kind, wenn die Eltern nicht mehr weiterwissen. Dies zeigt sich in der Reaktion des Vaters:
Vater: „Was ist denn los?“
Maria: „Schon wieder ungenügend im Diktat!“
Vater: „Mensch Maria! Jetzt haben wir das Diktat so oft geübt! Was sollen wir denn noch machen!?“
Diese Reaktion entsteht aus der Enttäuschung und der Hilflosigkeit des Vaters. Dieser hat sich viel Mühe gegeben, um mit Maria das Diktat zu üben und ist entsprechend frustriert, weil die ganze Arbeit scheinbar keine Früchte trägt.
Maria erfährt durch diese kurze Äusserung, dass es schlimm ist, wenn man einen Misserfolg erlebt. Dies ist deshalb so tragisch, weil Maria sich angestrengt und sich für die Prüfung vorbereitet hat. Der Satz „Was sollen wir denn noch machen!?“ drückt die ganze Hilflosigkeit des Vaters aus – aber wenn der grosse, kluge, weltgewandte Vater schon nicht weiss, was man tun könnte: Woher soll Maria das wissen? Sie ist zehn. Sie hat alles versucht. Sie schafft es nicht.
Maria wird durch diese Reaktion beim nächsten Diktat nur noch nervöser. Schliesslich weiss sie: „Ich werde es wieder nicht können. Es gibt keine Lösung. Und meine Eltern können es kaum verkraften, dass ich so schlecht bin.“
Auch bei dieser Reaktion haben viele Eltern das Gefühl, dem Kind etwas Positives zu vermitteln. Bei Seminaren und Vorträgen sagen uns immer wieder gerade beruflich erfolgreiche Väter, dass sie ihre Kinder auf diese Weise aufs Leben vorbereiten möchten „schliesslich wird später im Berufsleben auch Leistung gefordert“.
Wir halten jeweils die folgenden Punkte dagegen:
- In der Erwachsenenwelt haben Sie sich Ihren Beruf aufgrund Ihrer Stärken und nicht aufgrund Ihrer Schwächen ausgesucht – Sie können die geforderte Leistung mit ein wenig Anstrengung viel leichter erbringen als Ihr Kind. Für Maria fühlt sich das Diktate-Schreiben an, als müsste sich ihr Vater – ein begnadeter Jurist – nächsten Monat sein Gehalt durch einen Wettkampf im Hochsprung oder die Teilnahme an einem Gesangswettbewerb verdienen.
- Wiederholte Erfahrungen von Hilflosigkeit helfen einem Kind nicht dabei, später mit Leistungsanforderungen besser zurecht zu kommen – im Gegenteil: Solche Reaktionen vermitteln dem Kind, dass Misserfolge furchtbar und nicht abzuwenden sind.
- Haben Sie wirklich alles versucht? Der Vater von Maria fragt zwar händeringend, was man noch tun soll, aber: Er hat es bisher mit genau einer einzigen Strategie versucht. Er hat das Diktat x Mal diktiert. In seinem Beruf reagiert er ganz anders: Kann er ein Problem mit einer bestimmten Strategie nicht lösen, überlegt er sich, was er anders machen könnte und versucht es mit einer neuen Methode. Bei Maria hat er schon fünfzehn Mal erlebt, dass es nichts nützt, wenn er ihr das Diktat fünf oder zehnmal Mal diktiert. Trotzdem geht er bei Versuch 16 genau auf diese Weise vor und wundert sich, dass es wieder nicht klappt. Anstatt wieder das Gleiche zu tun, könnte er eine Recherche starten: Warum haben einige Kinder Mühe mit der Rechtschreibung? Gehört meine Tochter dazu? Falls ja: Was ist dann hilfreich? Welche Methoden gibt es? Wie kann ich wirksam helfen und welche Fortschritte kann ich von meinem Kind in welchem Zeitraum realistischerweise erwarten?
- Falls der Vater wirklich schon alles versucht hat, könnte er immer noch seine Prioritäten anders setzen und seine Messlatte anpassen. Es kann gut sein, dass Maria ihr Leben lang mit der Rechtschreibung Mühe haben wird. Es kann für Eltern und Kind hilfreich sein, das zu akzeptieren, kein Drama daraus zu machen, die Massstäbe anzupassen und sich in diesem Bereich auf kleine Fortschritte einzustellen. Später wird Maria auf dem Laptop schreiben und das Rechtschreibprogramm anschalten – wie wir Erwachsene auch. Je mehr Marias Vater seine Tochter so annehmen kann, wie sie ist, desto eher wird sie bereit sein, trotz der Schwäche und kleinen Fortschritten zu üben. Je mehr er ihre Stärken in anderen Bereichen sieht, wertschätzt und fördert, desto mehr Selbstvertrauen wird seine Tochter gewinnen und desto besser wird sie später wissen, auf welche Stärken sie bauen kann und in welchen Berufen sie etwas zu bieten hat.
Um Zuversicht zu vermitteln können wir dem Kind zeigen, dass:
- Es – zumindest in Teilbereichen – Verbesserungen gibt und sich die Anstrengung lohnt
- Wir uns über kleine Verbesserungen freuen
- Die Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft sind
In der Praxis könnte dies wie folgt aussehen:
Mutter: „Was ist los?“
Maria: „Schon wieder total schlecht!“
Mutter: „Im Diktat?“
Maria: „Ja!“
Mutter: „Und dabei hast du so viel gelernt. Bist du sehr enttäuscht?“
Maria: „Ja!“
Vater: „Das kann ich gut verstehen – das geht mir auch so, wenn ich mich angestrengt habe und es trotzdem nicht gelingt. Willst du einen Spaziergang mit mir machen oder ein wenig spielen, bis es dir wieder besser geht?“
Maria: „Spazieren – aber wir reden nicht über die Schule!“
Vater: „O.k. – wir müssen auch gar nicht reden, wenn du möchtest. Ich hole schon mal die Hundeleine.“
Am Abend nach dem Abendessen greifen die Eltern das Thema nochmals auf.
Vater: „Maria – ich weiss, du willst nicht darüber reden – aber ich fände es gut, wenn wir uns das Diktat nochmals in Ruhe anschauen und uns fragen, wie wir beim nächsten Mal vorgehen könnten. Ist das in Ordnung für dich?“
Maria: „Also gut.“
Mutter: „O.k…. ja, es hat viele Fehler. Mir fällt aber gerade auf, dass du kein einziges Mal „dass“ und „das“ verwechselt hast. Das war letztes Mal dein Hauptfehler und jetzt hast du es jedes Mal richtig gemacht.“
Maria: „Stimmt. Aber die Note ist trotzdem schlecht.“
Vater: „Ja…weisst du, vielleicht bringt es einfach nicht so viel, wenn wir diese Diktate x Mal schreiben. Vorschlag: Ich schaue diese Woche mal im Internet und in der Buchhandlung, wie man die Rechtschreibung am besten trainiert und dann schauen wir zusammen, was wir tun können. Einverstanden?“
Maria: „Ja!“
Mutter: „Hast du noch einen Vorschlag, Maria? Wie wir vorgehen könnten?“
Maria: „Frau Meier hat gesagt, dass ich sehr viele Fehler bei der Gross- und Kleinschreibung mache und sie mir Blätter dazu geben könnte…“
Vater: „Das klingt gut. Fragst du Frau Meier wegen der Blätter und ich schaue im Internet und der Buchhandlung?“
Maria: „Ist gut.“
Maria erfährt in diesem Beispiel, dass ihre Eltern ihren Frust nachvollziehen können, gleichzeitig aber auch zuversichtlich sind. Sie sehen kleine Verbesserungen und sind bereit, Maria zu unterstützen. Sie zeigen aber auch, dass Sie erwarten, dass Maria konstruktiv an einer Lösung mitarbeitet.
Trennen Sie Leistung und Liebe
Je stärker Kinder das Gefühl haben, mit guten Leistungen um die Zuwendung und Aufmerksamkeit von Eltern und Lehrpersonen kämpfen zu müssen, desto bedrohlicher werden Misserfolge für das Selbstwertgefühl.
Während manche Kinder und Jugendliche dadurch Prüfungsängste entwickeln, reagieren andere mit Widerstand und Leistungsverweigerung.
Trennen Sie jedoch die Beziehung- und die Leistungsebene, kann dies die Situation stark entspannen und die Motivation erhöhen. Dazu möchte ich Ihnen ein persönliches Beispiel geben:
Als ich (Fabian) ins Gymnasium kam, war ich der einzige in der Klasse, der kein Instrument spielte. In der ersten Prüfung im Musikunterricht wurde uns ein Musikstück vorgespielt und wir mussten dazu Fragen zu den darin auftauchenden Instrumenten, Rhythmen etc. beantworten. Ich hatte keine Ahnung und erreichte in der Prüfung gerade mal 2 von 24 Punkte. Die Note fiel entsprechend schlecht aus.
Alle anderen der Klasse hatten gute bis sehr gute Noten und einige machten sich über mich lustig.
Als ich nach Hause kam, lag ein Brief von meinem Singlehrer im Briefkasten. Darin stand:
Lieber Fabian
Es tut mir sehr leid, dass ich dir so eine schlechte Note geben musste. Ich weiss, dass du kein Instrument spielst und gegenüber den anderen im Nachteil bist.
Ich freue mich immer darüber, wie gut du im Unterricht mitmachst und hoffe, wir haben es weiterhin so gut zusammen.
Liebe Grüsse,
Dein Singlehrer, Herr …
Dieser Singlehrer hatte danach drei Jahre lang einen sehr schlechten, aber sehr begeisterten Schüler.
Wenn Kinder eine schlechte Note erhalten, sind sie manchmal davon überzeugt, dass der Lehrer oder die Lehrerin sie persönlich nicht mag. Bei manchen Lehrpersonen ist dies auch tatsächlich der Fall.
Falls Sie Lehrer/in sind und Kinder, die schlechte Leistungen zeigen genauso mögen, müssen sie ihnen dies beweisen. Wahrscheinlich wäre ich unsicher gewesen, was mein Singlehrer nach der katastrophalen Prüfung von mir denkt. Das klare Zeichen im Sinne von „Deine Leistungen sind schlecht, aber zwischen uns stimmt alles“ war für michnicht nur ein wichtiger Schutz für mein Selbstwertgefühl, sondern auch eine grosse Motivationsspritze. Sogar als die Leistungen in den nächsten Jahren nicht besser wurden, mühte ich mich weiterhin nach Kräften – ich wusste schliesslich, dass einer meiner Lieblingslehrer im Unterricht auf mich zählt!
Wenn Sie noch genauer wissen möchten, wie man Kinder im Umgang mit Frust, Problemen und Misserfolgen stärken kann, empfehlen wir Ihnen unser
Elternseminar „Resilienisch“ – ein Sprachkurs für innere Stärke (Resilienz in der Familie)
sowie unser neues Buch „Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden“: