Die Freunde in Nachbars Garten
„Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft-keinen größeren Reichtum, keine größere Freude.“ (Epikur von Samos)
Während Kinder im geschützten Rahmen der Familie die Regeln unserer Gesellschaft kennenlernen, bieten Freundschaften die Möglichkeit, wichtige Lernerfahrungen mit Gleichaltrigen zu sammeln. Freundschaften konfrontieren Kinder mit einer Reihe kleiner Entwicklungsaufgaben an denen sie wachsen können: Führen und nachgeben, raufen und sich wieder vertragen, Kompromisse aushandeln, miteinander teilen, sich in andere hineinfühlen.
Die wissenschaftliche Forschung versucht seit vielen Jahren das Mysterium Freundschaft zu entschlüsseln: Warum sind manche Kinder beliebter als andere? Wovon hängt es ab, ob ein Kind Freunde findet? Ziehen sich Gegensätze an oder gilt eher „gleich und gleich gesellt sich gerne“? Wie wird aus einer zufälligen Bekanntschaft eine echte und tiefe Beziehung?
Wir werden immer wieder auf diese Fragen zurückkommen. Die Antworten liefern uns Ansatzpunkte, um bereichernde Kontakte zwischen Kindern zu begünstigen. Verstehen wir diese Faktoren nicht als eine Wunderwaffe. Verstehen wir sie vielmehr als Hinweise auf günstige Ausgangsbedingungen, die Freundschaften zum Gedeihen bringen können.
Auf der Suche nach den Freundschafts-Faktoren verlassen wir Europa und reisen 65 Jahre in die Vergangenheit. Wir befinden uns im Westgate West Building, dem Studentenwohnheim des renommierten Massachussetts Institute of Technology (MIT). Das Bild ist geprägt von langen Gängen, die links und rechts von Schlafzimmern gesäumt sind. Treppen verbinden die Stockwerke und Wohneinheiten miteinander. Die Studenten, die hier einziehen, haben ihr gewohntes Umfeld verlassen, sind in eine neue Stadt gezogen und stehen nun zum Studienbeginn vor der Herausforderung, sich ein neues soziales Netz aufzubauen. Paradiesische Bedingungen also für Psychologen, die sich mit der Frage beschäftigen, wer sich aus welchen Gründen mit wem anfreunden wird. Das Ergebnis war einleuchtend, entspricht jedoch in keiner Weise einer romantischen Vorstellung vom Finden eines Seelenverwandten: Die Forscher fanden jenen Faktor, der heute den Namen „propinquity effect“ trägt. Der Effekt der (geographischen) Nähe. Je näher die Studenten im Studentenwohnheim zusammenwohnten, desto wahrscheinlicher war es, dass sie sich anfreundeten. Dabei fielen bereits vergleichsweise kleine Distanzen innerhalb einer Wohneinheit ins Gewicht. Wenn Sie Tür an Tür mit Simon wohnen, werden Sie sich also eher mit ihm anfreunden als mit Viktor, der am Ende des Flurs lebt. Warum?
Rein intuitiv wissen wir, dass die geographische Nähe die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass man sich zufällig begegnet, ein kurzes Schwätzchen hält und sich austauscht oder mit der Zeit sogar verabredet und etwas miteinander unternimmt. Die geographische Nähe schafft also den Nährboden für eine aufkeimende Freundschaft. Der zweite Grund liegt im sogenannten „mere exposure effect“. So hat eine ganze Reihe von Studien nachweisen können, dass wir vertraute Personen, aber auch vertraute Gegenstände positiver einschätzen. Im Bezug auf Beziehungen sagt der „mere exposure effect“ vorher, dass wir andere Menschen unbemerkt von Mal zu Mal sympathischer finden, je häufiger wir sie treffen.
Ich selbst (Stefanie) habe beide Effekte am eigenen Leib erlebt. Nach der Matura zog ich vom Bodensee nach Fribourg, um an der Universität Psychologie zu studieren. Mit etwas klopfendem Herzen und ein wenig wackligen Knien betrat ich am ersten Tag den Hörsaal, in dem die Einführungsveranstaltung stattfinden sollte. Ich war relativ früh dort und setzte mich auf einen Platz in der drittletzten Reihe. Die zwei anderen Studenten, die bereits einen Platz eingenommen hatten, tippten währenddessen hektisch auf ihren Handys herum als ginge es um Leben und Tod. Nach und nach strömten die neuen Studenten in den Hörsaal. Um mich herum liess sich ein bunter Kreis junger Menschen nieder: Neben mir links ein blonder Hüne mit riesigen Kopfhörern und auf der anderen Seite ein schlacksiger Metal-Fan mit wilden Locken, vor mir ein schmächtiger Deutschtürke mit Glitzershirt und geschliffenem Hochdeutsch und eine etwa 1,90 Meter grosse junge Frau mit der lautesten Stimme und den blondiertesten Haaren, die mir jemals untergekommen waren.
Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass diese bunte Truppe mit der Zeit zu einer harmonierenden Einheit und einer eingeschworenen Clique werden würde und dass die junge Frau mit der erstaunlich lauten Stimme sich über die Jahre zur engsten Vertrauten, meiner besten Freundin entwickeln würde. Eine Freundschaft, die viele Jahre und hunderte von Kilometern überbrücken würde.
Mittlerweile haben wir von Studenten, Kindern und Jugendlichen ganz ähnliches erfahren. Es sind die kleinen, zufälligen Begegnungen im Alltag, die Unbekannte mit der Zeit zu Freunden werden lassen. Die geographische Nähe zählt. Die ersten, bewussten Freundschaften werden üblicherweise in der Nachbarschaft geschlossen. In diesem Umfeld liegt eine grosse Chance. Wenn wir diese Chance am Schopf packen möchten, müssen wir als Eltern Platz für unverplante Freizeit schaffen. Zeit, in der Kinder eigene Spiele aushecken und die Umgebung erkunden können. Zeit, in der Kindern langweilig genug wird, um den Blick für mögliche Spielpartner im Umfeld zu weiten.
Kinder können dazu ermutigt werden, die Nachbarskinder kennenzulernen, indem man sie beispielsweise zu einem kleinen Begrüssungs-Fest oder einem Spielenachmittag einlädt. Die Kontaktaufnahme im gewohnten Umfeld kann Kindern dabei helfen, aufzutauen: Man kann die anderen Kinder herumzuführen, persönliche Spielsachen zur Verfügung stellen oder eigene Spiele vorschlagen. Es spielt dabei erfahrungsgemäss keine grosse Rolle, wenn nicht alle Kinder dasselbe Alter haben. In altersdurchmischten Gruppen entwickeln sich oft kreative Spiele und das Miteinander von Gross und Klein stärkt die sozialen Kompetenzen, aber auch das Durchsetzungsvermögen. Wir sind uns bewusst, dass ein Begrüssungs-Fest oder ein Spielenachmittag einen gewissen Mehraufwand für die Eltern bedeuten. Auf der anderen Seite können Sie dadurch eine wunderbare Möglichkeit ausschöpfen, die Hürde, Kontakte zu knüpfen, für Ihr Kind etwas tiefer anzusetzen. Zudem sind Kinder in Zukunft weniger auf die Eltern als Spielkameraden angewiesen.
Auch regelmässige gemeinsame Besuche auf dem Spielplatz in der Nähe bringen Kinder miteinander in Kontakt. In diesen Situationen können sich Kinder von Mal zu Mal in Ruhe „beschnuppern“. Typischerweise spielen sie erst nebeneinander her und beziehen einander erst mit der Zeit immer stärker in ein gemeinsames Spiel mit ein.
Manche Kinder haben Angst davor, abgewiesen zu werden. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn es in der Umgebung bereits eine bestehende „Clique“ gibt oder man frisch hinzugezogen ist. Sie blicken sehnsüchtig aus dem Fenster und beobachten die anderen spielenden Kinder. Nur zu gerne würden sie mitspielen. Aber was sollen sie sagen? Wie können sie überhaupt zeigen, dass sie mitspielen wollen? Was ist, wenn die Anderen sie nicht mitspielen lassen?
Werfen wir dazu einen Blick auf Kinder, denen es scheinbar mühelos gelingt, sich in eine bestehende Gruppe zu integrieren: Diese zeigen häufig ein gewisses Muster bei der Kontaktaufnahme. Auf der einen Seite beobachten sie genau, was die anderen Kinder tun und versuchen, sich fliessend in den Gruppenprozess einzubinden. So wird der 10-jährige Junge, der im Hof andere Jungen beim Skateboard und BMX-Fahren sieht, bestenfalls auch sein Skateboard/BMX holen und in der Nähe ein paar Tricks „trainieren“. Ein Mädchen, das eine Gruppe dabei beobachtet, wie sie auf dem Spielplatz eine Steinfigur baut, könnte sich selbst auf die Suche nach Steinen machen und sie den anderen beizeiten zur Verfügung stellen. Bei Mannschafts- und Brettspielen kommt es dabei auch auf das richtige Timing an. Als Erwachsenen ist uns dies glasklar, viele Kinder haben allerdings Mühe, diese implizite Regel zu erkennen: So haben wir immer wieder erlebt, dass Kinder weinend nach Hause kommen, weil die anderen Kinder sie nicht mitspielen lassen. Und ja: Kinder können grausam und gemein sein. In einigen Fällen stellen sich Kinder jedoch auch selbst ein Bein, weil sie in ein bestehendes Spiel hineinplatzen. Weil sie den richtigen Zeitpunkt nicht abwarten. Weil sie denken, sofort reagieren zu müssen.
Bei einem laufenden Fußballspiel auf den Platz zu rennen und als 12. Mann dabei sein zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Ein laufendes Brettspiel läuft nun mal. Kinder können einen überraschenden Feuereifer entwickeln, wenn es darum geht zu verteidigen, „was gilt und was nicht“ und „was so nicht ausgemacht war“.
Um Kindern dabei zu helfen, ein Gespür für das richtige Timing zu entwickeln, können wir sie dazu anleiten, andere Kinder bewusst zu beobachten. Gibt es andere Kinder, die neu hinzu kommen und mitspielen dürfen? Wie nähern sich diese Kinder auf dem Spielplatz oder dem Fussballplatz einer Gruppe? In welchem Moment melden sie sich zu Wort? Was sagen sie? Die meisten Kinder merken bald, dass man eine „Spielpause“ abwarten muss. Anstatt aufs Feld zu rennen könnte man also eine Weile am Spielfeldrand zuschauen und bei der nächsten Runde fragen, ob man mitspielen darf. Je nach Gruppe und Alter kann ein kleines Kompliment wie „Hey, guter Schuss!“ den Einstieg erleichtern.
Welche verborgenen Kontakte liessen sich in Ihrer Nachbarschaft entdecken?
Weitere Tipps zur Frage, wie Kinder Freundschaften knüpfen, erhalten Sie in:
- unserem Vortrag „Freundschaft: warum Kinder sie brauchen und wie Eltern sie stärken können“ für Elternvereine und Schulen
- unserem Buch „Geborgen, mutig frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden“
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