Umziehen: für Kinder eine Belastung
„Wir müssen dir etwas wichtiges sagen: wir ziehen um!“ Eine Mitteilung wie diese kann die Welt eines Kindes oder Jugendlichen innert weniger Sekunden ins Wanken bringen. Gerade ein Umzug in eine weit entfernte Stadt kommt im ersten Moment einer Entwurzelung gleich. Man wird aus dem wohlvertrauten Umfeld herausgerissen, verlässt die Klasse, die lieb gewonnenen Freunde, den Sportverein, der einem ans Herz gewachsen ist, und muss neu anfangen. Ein schwieriges Unterfangen.
Dass Umzüge ein einschneidendes Erlebnis sind, zeigt auch eine Reihe von Studien. So kamen die Forscher Shigehiro Oishi und Ulrich Schimmack in einer Untersuchung mit über 7000 Personen zum Ergebnis, dass Kinder, die häufiger umgezogen waren, als Erwachsene von einer deutlich geringeren Lebenszufriedenheit berichteten, mehr psychische Probleme hatten und tendenziell früher starben, als Menschen, die seltener oder gar nicht umgezogen waren und zwar dann, wenn es sich um introvertierte Persönlichkeiten handelte. Warum?
Introvertierte Menschen fühlen sich in der Regel mit einigen wenigen vertrauten Menschen am wohlsten, zu denen sie eine tiefe Beziehung pflegen. Oft brauchen sie mehr Zeit, um sich auf neue Menschen einzulassen und wirken auf den ersten Blick eher schüchtern und zurückhaltend. Ein Umzug trifft Menschen mit diesem Persönlichkeitsmerkmal daher relativ hart. Extrovertierten Menschen macht ein Umzug hingegen meist etwas weniger zu schaffen, denn: Sie kommen aufgrund ihrer offenen Art rascher mit Unbekannten in Kontakt und fühlen sich im Allgemeinen zu Cliquen und einem größeren, gemischten Freundeskreis hingezogen.
Dr. Shigehiro weist im Rahmen seiner Forschungstätigkeiten außerdem darauf hin, dass Kinder, die häufiger umziehen, tendenziell schlechtere Schulleistungen erbringen und mehr Verhaltensauffälligkeiten aufweisen.
Auch eine Langzeitstudie der Universität Manchester mit 1,5 Millionen Kindern aus Dänemark ergab, dass häufige Ortswechsel und Umzüge – insbesondere im Alter zwischen 12 und 14 Jahren – mit einer schlechteren psychischen Verfassung als Erwachsene zusammenhängen.
Vielleicht denken Sie jetzt: „… aber ein Umzug lässt sich nicht immer vermeiden und kann in manchen Fällen doch auch eine Chance für die ganze Familie darstellen!“ Das stimmt – teilweise.
Was können wir also als Eltern, Lehrpersonen und Mitschüler/innen tun, um Kindern und Jugendlichen in dieser herausfordernden Situation beizustehen? Sehen wir uns dazu einige Möglichkeiten an:
Der Traurigkeit Raum geben
Viele Eltern, die mit ihren Kindern den Wohnort wechseln möchten, werden von Sorgen und Schuldgefühlen geplagt. Beim Gedanken, dass ihr Kind von seinem gewohnten Umfeld Abschied nehmen muss, zerreißt es ihnen fast das Herz. Umso größer wird das Bedürfnis, das Kind zu trösten. Um den Nachwuchs schnell wieder glücklich zu sehen, versuchen viele Eltern, ihm den Umzug schon zu Beginn schmackhaft zu machen. Auf ein „Aber dann verliere ich alle meine Freunde!“ folgt ein gut gemeintes „Du wirst in der neuen Stadt sicher auch schnell Anschluss finden!“, ein „aber diese Wohnung ist unser zu Hause!“ wird mit einem „am neuen Ort haben wir ein ganzes Haus – mit Garten, wo du spielen kannst!“ entkräftet. Das ist gut gemeint. Das Problem ist: das Kind fühlt sich durch solche Beschwichtigungen nicht ernst genommen. Es erhält vielmehr das Gefühl, dass seine Eltern gar nicht verstehen, wie belastend die Situation ist, wie traurig und verzweifelt es sich fühlt.
Solange wir in emotionaler Aufregung sind, sind wir nicht empfänglich für rationale Erklärungen. Deshalb ist es hilfreich, wenn Eltern der Traurigkeit ihres Kindes in einem ersten Schritt Raum geben, wenn das Thema Umzug zur Sprache kommt. Sie können die erste Verzweiflung und den Ärger Ihres Kindes über Ihre Entscheidung mit keinem Argument der Welt wegdiskutieren. Stattdessen können Sie Verständnis zeigen:
- „Ich kann gut verstehen, dass dich das traurig macht und dass du am liebsten hier bleiben würdest.“
- „Die Vorstellung, in eine neue Klasse zu kommen, macht dir Angst, das würde mir auch so gehen.“
- „Du bist wütend über diese Entscheidung und das darfst du auch sein.“
Sicherheit schaffen
Wenn der erste Schock über den anstehenden Wohnortswechsel verdaut ist, können Eltern und Lehrpersonen dafür sorgen, dass die neue Umgebung für das Kind möglichst vorhersehbar wird und dass sich Aspekte finden lassen, auf die sich das Kind freuen kann.
Eltern können mit ihrem Kind vorab in die neue Umgebung fahren und diese gemeinsam erkunden: Wie sieht unsere neue Wohnung / unser neues Haus aus? Wo gibt es in der Nachbarschaft Spielplätze, einen Bolzplatz oder einen beliebten Treffpunkt? Wo werde ich zur Schule oder in den Kindergarten gehen?
Vielleicht können Sie vorab eine Besichtigung oder einen Besuchstag für Ihr Kind vereinbaren oder ihm, sollte das nicht möglich sein, einige Bilder zeigen. Es lohnt sich auch, sich zeitnah zu informieren, wo das Kind seine Hobbies weiterführen kann. Dies sorgt einerseits für Stabilität, andererseits begünstigt es neue Sozialkontakte.
Bei jüngeren Kindern können ergänzend dazu Bilderbücher wie „Conni zieht um“ eingesetzt werden.
Den Abschied vorbereiten
Die Trennung von den Freunden und Klassenkameraden ist für die meisten Kinder und Jugendlichen der schlimmste Aspekt am Umzug. Meist können sie diesen Schritt besser verarbeiten, wenn ihre Eltern mit ihnen verschiedene Wege aufgleisen, um mit den Freunden in Kontakt zu bleiben: Können sich die Kinder Messages, Karten, E-Mails oder Sprachnachrichten schicken? Können sie miteinander videotelefonieren (Facetime, Skype)? Und:
Lässt sich ein Treffen für die Zeit nach dem Umzug vorbereiten, auf das sich das Kind bereits bei der Eingewöhnung am neuen Ort freuen kann?
Auch ein Abschiedsfest gehört zum Ablöseprozess. Manche Schulen und Kindergärten haben dafür eigene Abschiedsrituale. Als Eltern können Sie Ihrem Kind dabei helfen, ein Abschiedsfest mit all seinen Freunden vorzubereiten. Manche Eltern scheuen sich vor diesem Schritt, weil sie befürchten, dass der Abschied dadurch noch schwieriger wird, und ja: solche Feiern sind in der Tat sehr emotional. Gleichzeitig helfen sie dabei, den Abschied zu verarbeiten, weil all die lieben Menschen nochmals zusammenkommen und das Kind spürt: „Ich werde hier gemocht und man wird mich vermissen. Meine Traurigkeit ist real und hat Platz. Es gibt Menschen, die mir beistehen und mich trösten wollen. Auch wenn ich bald woanders bin, meine Freunde sind nicht aus der Welt.“
Manchmal kommt in diesem Zusammenhang auch die Frage auf, ob man die Kinder für das Packen der Umzugskisten und den Umzugstag nicht lieber auswärts bleiben / übernachten lässt. Je älter die Kinder sind, desto mehr sollte das gemeinsame Ein- und Auspacken als Familienritual angesehen werden, bei dem auch die Kinder involviert werden sollten – sofern sie dies möchten.
Die Ankunft in der neuen Klasse
Den meisten Kindern wird Angst und Bang, wenn sie an ihren ersten Schultag in einer neuen Schule denken. Dieses Gefühl können Lehrpersonen aufgreifen und ihre Klasse dazu anregen, die Perspektive des neuen Kindes zu übernehmen. Nehmen Sie sich dafür etwas Zeit, noch bevor die neue Mitschülerin eintrifft.
In einem zweiten Schritt kann man gemeinsam mit der Klasse überlegen, was man tun kann, damit sich das neue Kind in der Klasse wohl und willkommen fühlt. Die Klasse kann im Vorfeld einen Begrüßungsbrief schreiben und einen Sitzplatz auswählen, der vielleicht sogar mit etwas selbst Gemachtem (Zeichnung, Kuchen o.ä.) geschmückt wird. Es ist zudem hilfreich, wenn die Klasse ein Kind bzw. eine Kleingruppe ernennt, die das neue Kind am ersten Tag durch die Schule führt und ihm alles zeigt.
Um das Thema aufzugreifen, können Sie den Kurzfilm „Das Reh zieht um“ im Klassenverband zeigen. Er richtet sich an Primarschulkinder und soll sie zu Empathie und prosozialem Verhalten anregen:
Als Lehrer/in können Sie den Film an verschiedenen Stellen stoppen, um einen Austausch in der Klasse anzuregen.
Nach der ersten Szene im Rehhaus eignen sich Fragen wie:
- Was fühlt das Reh, als seine Eltern ihm vom Umzug erzählen?
- Welche Sorgen / Gedanken gehen dem Reh wahrscheinlich durch den Kopf?
- Wie ist das für die Eltern des Rehs?
In der zweiten Sequenz stellt der Lehrer die Frage: „Ist jemand von euch schon einmal umgezogen?“ und die Füchsin erzählt. Hier können Sie Ihre Klasse mithilfe der folgenden Fragen zum Nachdenken anregen:
- Wie geht es einem Kind, das gerade umgezogen ist, vor seinem ersten Schultag an der neuen Schule?
- Wie fühlt es sich an, wenn man in einer ungewohnten Umgebung ganz neu anfangen muss?
- Wenn ich umziehen müsste: was würde ich mir von meiner neuen Klasse wünschen? Was würde mir dabei helfen, mich rasch einzugewöhnen?
Im Anschluss an das Video können Sie davon ausgehend mit Ihrer Klasse darüber diskutieren, wie Sie die / den neu zuziehende/n Schüler/in in ihrer eigenen Klasse willkommen heißen möchte.
Sich mit der neuen Umgebung anfreunden
Als Eltern können Sie Ihr Kind in die Einrichtung der neuen Wohnung mit einbeziehen und ihm dabei helfen, sein Zimmer so herzurichten, dass es sich darin möglichst wohlfühlt. Achten Sie darauf, dass lieb gewonnene Spielsachen oder Gegenstände (Decken, Fotos), die mit dem Gefühl von „Heimat“ verbunden sind, möglichst rasch griffbereit sind.
Es lohnt sich, die Anfangszeit dazu zu nutzen, sich intensiv im neuen Quartier umzuschauen. Erkunden Sie gemeinsam Spielplätze und Treffpunkte, wo das Leben stattfindet. Laden Sie die Nachbarn zu einem Apéro oder Grillfest ein, damit sich auch die Kinder aus der Nachbarschaft beschnuppern können. Halten Sie die Augen offen, ob es gemeinsame Schulwege gibt und prüfen Sie, ob Sie sich mit anderen Eltern von Kindern zu Fahrgemeinschaften / oder Pedibusgruppen zusammenschließen können, um Ihrem Kind die Kontaktaufnahme zu erleichtern. Geben Sie Ihrem Kind die Möglichkeit, an seinen bisherigen Hobbies anzuknüpfen.
Aktuell: Unsere Seminare zum Thema Lernstrategien
Für Lehrer/innen: „Lernstrategien – weniger ist mehr!“
Für Jugendliche: „Clever lernen“ (11-13 Jahre)
Für Eltern: „Die besten Lernstrategien für Primarschulkinder“