Jetzt entschuldige dich gefälligst!

„Es tut mir leid.“

Vier Wörter, die vielen Kindern und Erwachsenen nur schwer über die Lippen kommen. Sich entschuldigen das bedeutet für manche Menschen: Das Gesicht verlieren, Fehler und Schwächen aufdecken, an Wert einbüssen.

Die Fähigkeit, sich ehrlich zu entschuldigen, ist eine wichtige Voraussetzung für glückliche und stabile Beziehungen. Sie ist gleichsam der Kitt, der Verbindungen nach einem Bruch wieder zusammenflickt. So zeigt die Paarforschung beispielsweise, dass es Paaren, die in stabilen und zufriedenen Partnerschaften leben, besser gelingt, angespannte Situationen im Alltag zu „reparieren“ und sich immer wieder neu aufeinander einzulassen. Sie haben die Angewohnheit, eigene Fehler einzugestehen und aufeinander wohlwollend zu reagieren. Unglückliche Paare, deren Beziehungen mit der Zeit in die Brüche gehen, zeigen ein gegenteiliges Muster. Sie machen sich gegenseitig Vorwürfe, leugnen den eigenen Anteil an einem Konflikt, schalten im Gespräch „auf Durchzug“ und sind lange nachtragend.

Als Eltern haben wir eine grosse Macht: Wir können ein Stück weit mit beeinflussen, ob unsere Kinder eher zu verbissenen, rechthaberischen und nachtragenden oder eher zu starken, aber dennoch verträglichen und wohlwollenden Erwachsenen heranreifen.

Bevor wir uns der Frage widmen, wie wir prosoziales Verhalten im Alltag fördern und in die Beziehungsfähigkeit unserer Kinder investieren können, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, warum:

  • wir uns überhaupt schämen, wenn wir etwas „Falsches“ getan haben
  • manche Menschen mit Fehlern kompetenter umgehen können als andere

Scham: etwas Überlebenswichtiges

Biber_Selbstvertrauen-besorgtIn der Evolutionspsychologie geht man davon aus, dass das Gefühl von Scham für unser Überleben eine wichtige Rolle spielte. Scham signalisiert: „Ich habe gegen eine wichtige Regel unserer Gruppe verstossen und bin mir dessen bewusst!“ Wer nach einem Regelverstoss einfach weitermachte als sei nichts, riskierte hingegen, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden und damit den Schutz und die Versorgung durch den Clan zu verlieren. Damit stand das Überleben eines einzelnen auf Messers Schneide. Einen Überlebensvorteil, so die Evolutionspsychologie, hatten also diejenigen, die auf Regelverstösse mit Scham reagierten und dazu in der Lage waren, das Wohlwollen der Gruppe wieder zurückzugewinnen.

Selbstverständlich laufen wir heute keine Gefahr mehr, von einem Säbelzahntiger gefressen zu werden, wenn wir uns daneben benehmen und von anderen verstossen werden. Die Fähigkeit, das Wohlwollen unserer Mitmenschen zurückzuerobern, wenn wir sie enttäuscht oder verärgert haben, hat jedoch seit der Zeit der Säbelzahntiger nichts an Wichtigkeit eingebüsst. Wie können wir diese Fähigkeit im Alltag stärken?

Grösse zeigen- ein Vorbild sein

Kinder lernen die sozialen Spielregeln vor allem am „Modell“- sie schauen sich einiges von ihren Eltern, Kindergärtner/innen, Lehrpersonen, aber auch von Gleichaltrigen ab. Wir können für Kinder zu einem guten Vorbild werden, indem wir deutlich machen: Es ist keine Schande, einen Fehler zuzugeben und es braucht Mut und Grösse, um sich zu entschuldigen. Gleichzeitig können wir unseren Kindern vorleben, wie schön es ist, sich nach einem Streit wieder zu vertragen und eine ehrlich gemeinte Entschuldigung anzunehmen. Der Alltag steckt voller Möglichkeiten, um diese Haltung bewusst zu stärken. Wir können uns dazu fragen: Wie reagiere ich normalerweise, wenn ich meinen Kindern gegenüber –auch nur einen kleinen Fehler- mache? Was tue ich, wenn ich aus Versehen auf Leons Spielzeugauto trete, Mona beim Haarebürsten etwas zu fest ziepe, ein Versprechen („nachher habe ich sicher noch Zeit für ein Spiel!“) verschwitze oder in einen herrischen Ton verfalle? Wir können diese Situationen einfach übergehen, so tun als wäre nichts gewesen und mit dem Alltag weiterfahren. Wir können aber auch die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen und ein Vorbild für einen respektvollen Umgang abgeben. Indem wir uns kurz Zeit nehmen, uns auf die Augenhöhe des Kindes begeben, ihm in die Augen schauen und vielleicht etwas sagen wie: „Es tut mir leid, dass ich auf dein Auto getreten bin. Das war keine Absicht. Ist etwas kaputt gegangen?“ oder „Ich war ganz schön wütend gerade. Entschuldigung, dass ich so laut geworden bin. Das war nicht ok von mir.“ Verträglichkeit wird in der Familie erlebbar, wenn Kinder ihre Eltern ab und zu dabei beobachten dürfen, wie sich Mama und Papa nach einer stressigen Situation in den Arm nehmen und etwas sagen wie: „Es tut mir leid, ich habe überreagiert.“ Durch diese kleinen, unscheinbaren Signale lassen wir Kinder spüren: Es ist eine ganz normale Sache, sich zu entschuldigen und man muss nicht versuchen, einen Fehler zu vertuschen oder auf andere abzuschieben. Eine ehrlich gemeinte Entschuldigung ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Teil eines respektvollen Umgangs miteinander. Es ist wunderbar, wenn Kinder erleben dürfen: Meine Eltern machen auch manchmal Fehler, sie stehen dazu und ich habe sie trotzdem lieb.

Erleben zu dürfen: „ein Streit ist nur eine Momentaufnahme. Eine gute Beziehung hält das aus und Wiedergutmachung ist möglich“ ist ein wirksamer Schutz gegen Angst vor Zurückweisungen und Verlassenwerden.

Das Prinzip der Wiedergutmachung leben

Wir können die sozialen Kompetenzen unserer Kinder zudem stärken, indem wir ihnen das Prinzip der Wiedergutmachung näher bringen. Nehmen wir dazu an, Tim hat das Schiffmodell seines älteren Bruders Martin absichtlich oder aus Versehen kaputt gemacht. Wir könnten Tim nun schimpfen, mit ihm darüber diskutieren, dass sein Verhalten falsch war und ihn dazu zwingen, sich bei seinem Bruder zu entschuldigen. Vielleicht wird Tim widerwillig nachgeben, seinem Bruder mit einem leisen, nuscheligen „`Tschuldigung“ die Hand hin strecken und seinen Blick dabei abwenden. Solche erzwungenen Entschuldigungen verfehlen jedoch oftmals ihre Wirkung. Tim gibt zwar widerwillig nach, denkt jedoch nicht weiter über sein Handeln nach. Martin wird die erzwungene Entschuldigung seines Bruders kaum ernst nehmen können-sein Ärger bleibt. Das Prinzip der Wiedergutmachung ist eine Alternative. Es ermöglicht Kindern, über ihr Verhalten nachzudenken und mit Taten (und nicht nur mit Worten) um Verzeihung zu bitten. So können Kinder dazu angeregt werden, zerstörte Spielsachen (unter Anleitung) zu reparieren oder mit ihrem Taschengeld zu ersetzen. Eine Mutter erzählte uns zu diesem Thema, dass ihr jugendlicher Sohn kürzlich in einem Supermarkt einige Kleinteile hatte „mitgehen lassen“. Es handelte sich dabei offenbar um eine Mutprobe unter Kollegen. Als die Mutter die Waren bei ihrem Sohn fand und ihn zur Rede stellte, bestand sie darauf, mit ihrem Sohn zum Laden zurückzugehen und die gestohlenen Waren zurückzugeben. Sie besprach ausserdem vorab mit ihm, wie er sich entschuldigen und den Schaden wieder gut machen könnte. In diesem Fall würde sie zu Hause von einer Strafe absehen. Der Junge zeichnete daraufhin einen „Entschuldigungs-Schriftzug“, den er beim Gespräch dem Marktleiter übergab. Seine Wiedergutmachung bestand darin, in den Ferien unentgeldlich für einige Stunden im Supermarkt auszuhelfen. Auch Sie als Eltern können ihre Kinder bewusst am Prinzip der Wiedergutmachung teilhaben lassen, indem Sie die Gefühle Ihres Kindes ernst nehmen und mit ihm darüber sprechen, z.B. „Es tut mir leid, dass ich unseren Spielenachmittag verschwitzt habe. Du bist ganz schön enttäuscht, gell? Das kann ich gut verstehen… Was könnte ich dir Gutes tun?“

Wenn Kinder sich zanken: Perspektivenwechsel spielerisch üben

Kinder streiten sich andauernd: in der Schule, dem Kindergarten, auf dem Spielplatz oder im Verein. Gerade jüngere Kinder reagieren oft impulsiv, wenn ein Gspändli gegen eine „Regel“ verstossen hat. „Du bist nicht mehr mein Freund!“-wie oft haben wir diesen Satz bereits gehört…

Biber_Hase_Baby_SandkastenGerade impulsive Kinder bemerken häufig nicht, wenn sie ihre Freunde vor den Kopf stossen oder eine Grenze überschreiten. Sie schieben ihre Schuld  auf andere ab („Aber DER hat angefangen…!“) und sind nicht bereit, einen Fehler zuzugeben. Eltern beissen sich regelmässig die Zähne aus, wenn sie versuchen, ihrem Kind sein Fehlverhalten vor Augen zu führen. Sie erleben, dass ihr Kind blitzschnell in eine Verteidigungshaltung gerät und jedes Argument („Meinst du nicht, dass hat auch was damit zu tun, dass du…“) oder jede Anregung zum Nachdenken („Aber was meinst du denn, wie war das für XY?“) abschmettert. In diesen Fällen hilft es oft, den Perspektivenwechsel spielerisch zu trainieren. Wir bereiten dies in einer ruhigen Minute vor, wenn das Kind gerade guter Laune und aufnahmefähig ist. Denn kocht die Stimmung aufgrund eines Konflikts erst einmal hoch, sind solche sachlichen Gespräche kaum möglich.

Wir erzählen den Kindern von einem fiktiven Beispiel, einem sozialen Konflikt. Nehmen wir an, Maria schubst Tanja auf der Treppe in der Pause, sodass Tanjas stolpert und sich die Schokomilch über den Pullover giesst. Anschliessend besprechen wir, dass es bei einem Gerichtsverfahren (oder Kriminalfall) immer zwei Seiten gibt: die Verteidigung und den Staatsanwalt und erklären, wofür diese zuständig sind. Anschliessend sammeln wir mit den Kindern, was wohl die Verteidigung und was der Staatsanwalt zu diesem „Streitfall“ sagen würden? Dabei finden sich meistens Möglichkeiten wie diese:

Verteidigung:

  • Es war keine Absicht
  • Maria hat Tanja nicht gesehen
  • Maria wurde selbst geschubst und ist in Tanja hineingedrängt worden
  • Es war sehr voll im Schulhaus auf der Treppe und Tanja ist sehr langsam gelaufen
  • Jemand anders hat Tanja geschubst

Staatsanwalt:

  • Maria hat Tanja geschubst
  • Maria hat es absichtlich getan
  • Maria wollte, dass Tanja hinfällt

Wenn Kinder mit dieser Art, eine Situation zu analysieren, spielerisch vertraut gemacht wurden, können Sie den Perspektivenwechsel auch für aktuellen Situationen aus dem Leben Ihres Kindes trainieren. Vielleicht sagen Sie etwas wie: „Hey, jetzt hast du dir ja echt gute Argumente für die Verteidigung überlegt. Wie sieht es mit dem Staatsanwalt aus? Was würde er wohl dazu sagen?“ Es gelingt Kindern oft besser, einen kühlen Kopf zu bewahren und ihre Perspektive zu ändern, wenn sie über Streitsituationen „stellvertretend“ nachdenken.

Freundschaften kitten: von Zeichnungen, Briefen und Gesprächen

Eltern können ihren Kindern dabei helfen, stabile Freundschaften zu erhalten, indem sie sie dabei unterstützen, Konflikte selbständig beizulegen. Manchmal sind sich Kinder und Jugendliche sehr wohl bewusst, dass sie einen Freund enttäuscht oder verletzt haben. Sie wissen ganz einfach nicht, wie sie nun reagieren sollen.

Meine Nachbarin Patricia und ich waren von klein auf ein Herz und eine Seele. Wir spielten gemeinsam mit unseren Puppen, schlugen uns später als Räuberinnen stundenlang mit dem Hund durch den Wald und sparten unser Taschengeld eisern für unseren gemeinsamen Traum -ein Pony, das in der Garage wohnen sollte 🙂 (Liebe Tierschützer, bitte verzeihen Sie uns diesen kindlichen Irrsinn. Er kam natürlich nie zu Tragen :)). Ich erinnere mich noch genau an eine Situation, in der wir uns furchtbar zerstritten. Bei der Matheprüfung warf ihr der Lehrer vor, gespickt zu haben und und ich –was für eine Freundin- hatte nicht einmal für sie Partei ergriffen. Ich war ihr, was unseren Freundschaftskodex betraf, gehörig in den Rücken gefallen. Ganz schön gemein! Einige Bauchschmerzen, Gewissensbisse und Tränen später war ich mit meinem Latein am Ende. Patricia war stinksauer und wollte nicht mehr meine Freundin sein. Zum Glück fasste sich meine Mutter damals ein Herz und überlegte mit mir gemeinsam, wie ich mich entschuldigen könnte. Die Situation war mir derart peinlich, dass ich partout nicht persönlich bei meiner Freundin vorbei gehen wollte. Gedankten quälten mich wie: „Was, wenn nur ihre Eltern da sind und die nun auch böse auf mich sind? Was, wenn sie gar nicht mit mir reden will und mir die Türe vor der Nase zuknallt?“ Ich entschied mich schlussendlich dafür, Patricia eine kleine Stofftierkuh zu schenken, die ich bei der Tombola letzte Woche gewonnen hatte. Patricia war damals ziemlich enttäuscht gewesen, dass sie nur Nieten gezogen hatte. Ich umwickelte die Kuh mit einer kleinen Schleife und band einen Zettel mit einem Gedicht daran:

„Muh, muh, ich bin Mia, die Kuh.

Ich war nicht gescheit, das tut mir sehr leid.

(…)

Ich will wieder deine Freundin sein,

es ist ganz blöd allein.“

Die Kuh wartete nun eingepackt in einer Plastiktüte in der Zeitungsrolle auf Patricia. Am nächsten Tag kam bereits ein Zettel zurück und schon bald waren wir wieder die dicksten Freundinnen.

Eltern können ihre Kinder unterstützen, indem sie gemeinsam mit ihnen darüber nachdenken, wie sie sich nach einem Fehltritt beim Gspändli entschuldiDienstleistungengen können. Es geht dabei nicht um Geschenke oder Bestechung. Es geht vielmehr darum, gemeinsam einen Weg zu finden, um eine wichtige Freundschaft wieder in positive Bahnen zu lenken. Jüngere Kinder malen vielleicht ein Bild oder basteln etwas, Schulkinder schreiben einen kleinen Zettel, Jugendliche verfassen vielleicht einen Brief, drehen ein Video oder tätigen einen Anruf. Ältere Kinder und Jugendliche können bei der Vorbereitung einer Entschuldigung auf die folgenden Fragen vorbereitet werden:

  • Was genau tut mir leid / Was habe ich falsch gemacht?
  • Wie fühlt sich der / die Andere, was hat es bei ihm / ihr ausgelöst?
  • Wie hätte ich stattdessen reagieren sollen / wollen?

So verfasste meine beste Freundin Kathrin aus Jugendtagen nach einem schlimmen Streit eine Geschichte über die beiden Wetterfeen Estefania und Ekatarina, die mit ihrem Streit einen bitterlichen Frost über den Wald kommen liessen und wie die Sonne und Farben zurückkehrten, als sie sich wieder vertrugen. Und darüber, warum die beiden so verschieden waren, sich aber dringend brauchten.

Vielleicht können Sie sich vorstellen, dass ich nicht lange böse sein konnte…

Anerkennung für innere Grösse schenken

Es braucht viel Mut und innere Stärke, sich bei anderen zu entschuldigen. Denn für die meisten Kinder sind Entschuldigungen mit Scham und Unwohlsein verbunden. Je mehr es uns gelingt, Kindern Anerkennung zu zeigen, wenn sie sich überwinden und je mehr wir ihnen das Gefühl von Stolz  und Erleichterung ermöglichen, indem wir noch einmal neu beginnen und nicht nachtragend sind, desto eher entwickeln sich Kinder zu Erwachsenen, die:

  • Fehler zugeben, sich mit ihren Schwächen annehmen und das Gefühl haben, dennoch gemocht und akzeptiert zu werden
  • Offener auf andere zugehen ohne ständig Angst zu haben, etwas falsch zu machen
  • Konflikte lösen und Beziehungen „kitten“ können
  • Anderen vergeben und sich schneller von Enttäuschungen erholen können

Unsere Veranstaltungen zum Thema „Freundschaft“

Aktuell: Unser Buch „Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden“

Wir alle wünschen uns Kinder, die dem Leben mit Mut begegnen. Die mit Misserfolgen, Schwierigkeiten und Rückschlägen umzugehen wissen – resilient sind. Kinder, die ihre Stärken kennen und nutzen und ihre Schwächen akzeptieren. Kinder, die mit anderen in Kontakt treten können und Freundschaften und Beziehungen als sinnstiftend erleben.
Im Alltag bieten sich unzählige Möglichkeiten, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen von Kindern zu fördern.
Dieses Buch gibt eine Vielzahl von Impulsen, die Kindern zu innerer Stärke und Widerstandsfähigkeit verhelfen.