Die Falle destruktiver Kritik
Damit Kinder ihre Stärken und Schwächen kennen, ihre Wirkung auf andere richtig einschätzen und ihre Fertigkeiten in einem bestimmten Bereich beurteilen können, benötigen sie Rückmeldungen von aussen – von Eltern, Lehrkräften und Gleichaltrigen.
Zu diesen Rückmeldungen gehört auch Kritik. Wie diese ausfällt, ist für unsere Beziehung zu unseren Kindern bzw. Schüler/innen und deren Entwicklung entscheidend. Erhalten wir konstruktive Rückmeldungen, werden Fehler zu Chancen, durch die wir wachsen und uns besser kennenlernen können. Destruktive Kritik untergräbt hingegen unser Selbstvertrauen und unser Selbstwertgefühl.
In diesem Artikel gehen wir der Frage nach, warum wir mit unserer Kritik oft – ohne es zu wollen – destruktiv werden und wie wir dies verhindern können.
Destruktive und konstruktive Kritik
Um zu beurteilen, ob eine Kritik konstruktiv oder destruktiv ist, sollten wir nicht nur darauf achten, was genau gesagt wurde, sondern wie die Kritik beim Gegenüber ankommt. Je nach Kind, Situation, Bereich oder Tonfall kann sich der gleiche Satz ganz anders auswirken.
Kommunikationssegeln, die nur darauf ausgerichtet sind, die Kritik richtig vorzubringen, können hohl und formelhaft wirken. Konzentriert sich ein Vorgesetzter beispielsweise immer darauf, nach Schema x zuerst künstlich drei positive Punkte vorzubringen, bevor er die negativen Punkte anspricht, hören die Mitarbeiter mit der Zeit bei den positiven Rückmeldungen gar nicht mehr hin. Sie wissen, dass hier lediglich eine stereotype Regel befolgt wird, bevor „er endlich sagt, was Sache ist“. Solche Übungen wirken bestenfalls lächerlich – nach dem Motto: „Aha – der Herr x war wieder in einem Psychologie-Kurs zur Mitarbeitermotivierung…“.
Wenn wir fähig werden möchten, tatsächlich konstruktiv zu kritisieren, müssen wir uns etwas tiefer auf das Thema, uns selbst und unsere Mitmenschen einlassen. Dazu gehört es auch, zu wissen, wann und warum unsere Kritik destruktiv wird.
Wie wir kritisieren hängt von unseren Gefühlen und Absichten ab
Wir kritisieren andere aus ganz unterschiedlichen Gründen, wobei unsere Absichten sehr stark darüber entscheiden, wie wir kritisieren und wie unsere Kritik beim Gegenüber ankommt.
Den anderen unterstützen
Unsere Kritik kann wohlwollend gemeint sein und zum Ziel haben, einen anderen Menschen zu unterstützen. Wir möchten ihm zum Beispiel:
- Verbesserungspotential aufzeigen
- Ihm dabei helfen, sich in einer Art und Weise zu verhalten, die ihm Vorteile einbringt und sein Leben erleichtern wird
Diese Form der Kritik entspringt meist aus einem Gefühl der Fürsorge, Zuneigung und Wertschätzung für den anderen. Geht der andere auf die Kritik ein, freuen wir uns, sind stolz auf ihn oder erleichtert.
Eigene Absichten durchsetzen
Sehr oft kritisieren wir andere, weil wir uns in unseren eigenen Absichten und Wünschen durch ihr Verhalten gestört fühlen oder weil sie unsere Werte verletzen. In diesem Fall möchten wir mit unserer Kritik erreichen, dass sich der andere:
- Unseren Wünschen und Wertvorstellungen anpasst
- Uns nicht weiter bei der Ausführung unserer Absichten stört
Dieser Form der Kritik liegt meist eine Frustration zu Grunde. Wir fühlen uns frustriert, weil sich der andere unseren Wünschen widersetzt, uns in unseren Absichten behindert oder uns das Gefühl gibt, (als Eltern, Lehrer etc.) versagt zu haben. Wir sind zufrieden, wenn sich der andere anpasst und uns nicht weiter behindert. Geht der andere auf die Kritik ein, empfinden wir oft ein Gefühl der Erleichterung.
Den anderen schädigen
Schliesslich kritisieren wir auch, um anderen zu schaden. Wir möchten beispielsweise, dass der andere:
- An Glaubwürdigkeit verliert
- Sich schämt oder andere negative Gefühle empfindet
Dieser Form der Kritik liegt ein Gefühl des Ärgers, der Aggression oder Gegnerschaft zugrunde. Hier erwarten wir gar nicht, dass der andere auf unsere Kritik eingeht und sich ändert. Vielmehr reagieren wir mir Schadenfreude oder Genugtuung, wenn sie den anderen trifft oder schädigt. So wird beispielsweise ein Wahlkampfteam nicht in erste Linie zum Ziel haben, die gegnerische Partei zu einer Einstellungs- oder Verhaltensänderungen zu motivieren, sondern deren Glaubwürdigkeit zu untergraben und damit die eigenen Wahlchancen zu erhöhen.
Die Kritik verändert sich mit den Emotionen, die sie begleiten
Jetzt würden wir natürlich alle gerne behaupten, dass wir mit unserer Kritik immer nur das Ziel verfolgen, andere zu unterstützen. Wir wissen aber auch, dass das nicht stimmt. Es ist dennoch hilfreich, uns bewusst zu machen, welche Absicht wir mit unserer Kritik verfolgen. Wenn wir dies tun, merken wir oft, dass wir „tiefer gesunken sind“, als wir wollten. Dies geschieht oft unmerklich, indem wir uns in unseren Absichten „nach unten“ bewegen.
Meist beginnen wir mit einem Gefühl des Wohlwollens. Wir möchten, dass der andere sich gut fühlt und sich positiv entwickelt und geben entsprechende Rückmeldungen.
Geht dieser nicht darauf ein, kann sich schon bald ein Gefühl der Frustration breit machen. Wir fühlen uns durch den anderen darin behindert, unsere eigenen Ziele zu verfolgen oder unsere Werte zu leben. Unsere Kritik wird harscher.
Geht der andere immer noch nicht darauf ein, neigen wir dazu, ihm böse Absichten zu unterstellen. Der andere will uns scheinbar fertig machen! Also heisst die Devise: Zurückschlagen!
Negative Kritik: Eine Abwärtsspirale
Frau Zahnd hält endlich ihr Lehrerdiplom in den Händen und freut sich auf ihre erste Schulstunde. Sie übernimmt eine fünfte Klasse und hat sich gut auf den Einstieg vorbereitet. Sie weiss, wie wichtig eine gute Beziehung zur Klasse ist und hat sich vorgenommen, dass sich jeder Schüler bei ihr wohlfühlen soll.
Das trifft auch auf Roger zu, der ihr gleich am ersten Vormittag auffällt. Roger quatscht nämlich mit anderen. Er steht auch einfach auf und geht zum Wasserhahn, ohne zu fragen – mehrmals! Beim dritten Mal gibt’s beim Rückweg einen Klaps auf den Hinterkopf von Sabrina.
Das wird ein harter Fall, denkt sich Frau Zahnd – vor allem, nachdem sie in der Pause im Lehrerzimmer gehört hat, dass sie es zum Start mit „Schulschreck“ Roger in der Klasse besonders gut erwischt hätte.
Frau Zahnd bleibt gelassen. Sie vertraut auf ihr pädagogisches Wissen und hat sich vorgenommen, positives Verhalten bei Roger verstärkt zu loben und ihm gleichzeitig klare Grenzen aufzuzeigen.
Das Problem: Das scheint bei Roger nicht zu wirken! Das Lob kommt kaum an und die Grenzen übertritt er, wo er kann. Immer öfter muss Frau Zahnd ihn bestrafen. Aus den Strichen werden Strafaufgaben, aus den Strafaufgaben wird Nachsitzen. Nichts hilft – Roger wird immer frecher und Frau Zahnd immer frustrierter. Sie fühlt sich hilflos, merkt, wie sie immer öfter an Roger und die verfahrene Situation denkt und mit Freunden und ihrem Mann darüber spricht. Die Gespräche sind wenig hilfreich. Sie erntet zwar Verständnis, aber die „Ratschläge“ wie „dem würde ich mal zeigen, wer hier das Sagen hat“ oder „am besten ignorierst du ihn einfach“ sind alles andere als hilfreich. Die Kritik wird harscher, das Lob nimmt ab und die Beziehung zwischen Roger und seiner Lehrerin immer negativer.
Schliesslich erreicht Frau Zahnd die dritte Phase. Gedanken wie „der will mich fertig machen!“, „der macht mir alles zur Sau!“ schiessen ihr durch den Kopf. Sie fühlt Aggressionen in sich aufsteigen, wenn sie Roger nur schon ansieht. Er hat es doch tatsächlich geschafft, weitere Kinder auf „seine Seite“ zu ziehen. Die ganze hintere Ecke sabotiert nun schon ihren Unterricht. In dieser Phase geht es Frau Zahnd nicht mehr darum, dass sich Roger wohl fühlt, auch nicht mehr darum, dass er sich anpasst und sich unauffällig verhält. Dafür hat Roger zu viel angerichtet. Frau Zahnd fühlt sich machtlos, blossgestellt, herabgesetzt. Roger hat ihr gezeigt, dass sie nicht die kompetente Pädagogin ist, für die sie sich nach dem Lehrerseminar gehalten hat – Frau Zahnd hat sogar das Gefühl, dass er ihr „die Freude am Lehrerberuf“ genommen hat. Sie fängt an, Roger an die Tafel zu rufen und ihn blosszustellen, wenn er nicht aufpasst, ihn anzuschreien, wenn er nicht gehorcht. Die Klasse entgleitet ihr nach und nach.
Was wir damit sagen möchten ist: Schneller als wir denken, sind wir an einem Punkt, wo wir uns selbst nicht mehr wiedererkennen. Aus der Distanz können wir Frau Zahnd natürlich verurteilen – aber können wir uns sicher sein, dass es uns anders erginge? Haben wir nicht vielleicht schon selbst ähnliches erlebt? Was könnte Frau Zahnd nun helfen?
Wege aus der destruktiven Kritik
Wird unsere Kritik negativer, müssen wir als Erwachsene die Notbremse ziehen. Um unser Kind, unsere Schüler und uns selbst zu schützen.
Die Art, wie sich Frau Zahnd gegen Ende verhält (den Schüler blossstellen, anschreien etc.) lässt sich verstehen, wenn wir uns in sie einfühlen und eine junge Lehrerin sehen, die überfordert ist, mit anschauen muss, wie ihre Bemühungen zunichte gemacht werden, sich ohnmächtig und hilflos fühlt. Wie viele Lehrkräfte beginnen sie Alpträume zu verfolgen. Sie wacht morgens schweissgebadet auf und hat Angst, in die Schule zu gehen.
Obwohl ihr Verhalten verständlich ist, darf es nicht so weitergehen. Ihr Verhalten führt dazu, dass sich die Beziehung zu Roger laufend verschlechtert, was diesen immer mehr dazu anstachelt, Frau Zahnd fertig zu machen. Rogers Klassenkameraden nehmen Frau Zahnd auch nicht mehr als die nette junge Lehrerin wahr, die sie zu Beginn kennengelernt haben und ziehen mit – Frau Zahnd muss erfahren, dass sie nicht am längeren Hebel sitzt. Zudem verstösst Frau Zahnd mit diesen Methoden gegen alle Werte, die ihr wichtig sind und untergräbt damit ihr eigenes Selbstwertgefühl.
Wenn wir in die Falle der destruktiven Kritik getappt sind und merken, wie wir ein Kind immer negativer behandeln, müssen wir uns zunächst selbst wachrütteln.
Sich wachrütteln
Dazu gehört, dass man sich mit Verständnis begegnet und sich selbst eingesteht, dass man mit der momentanen Situation überfordert ist. Im Sinne von Frau Zahnd könnte das wie folgt aussehen:
„Ich bin Roger nicht gewachsen. Ich leide unter dieser Situation und weiss nicht, was ich tun soll, aber so darf es nicht weitergehen – sonst macht uns das beide fertig!“
Als zweites können Sie Distanz zum Problem schaffen, indem Sie es zerlegen und analysieren
Distanz schaffen
Das Problem ist, dass wir in solchen Situationen meist aus dem Bauch heraus reagieren. Und wenn sich unser Bauch wie ein harter Brocken aus Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit anfühlt, dann ist er ein schlechter Ratgeber.
Distanz können wir schaffen, indem wir uns hinsetzen und uns schriftlich mit dem Problem befassen. Wir können beispielsweise aufschreiben, welche Problemsituationen häufig auftreten und wie stark wir uns davon gestört fühlen.
Im Falle von Frau Zahnd könnte dies wie folgt aussehen.
Liste von häufigen Problemsituationen:
- Roger steht mindestens einmal pro Stunde auf, um zum Wasserhahn zu gehen. Dabei stört er beim Vorbeigehen mehrere Mitschüler/innen
- Roger schwatzt oft mit seinen Freunden Peter und Jan und lenkt dabei die anderen vom Unterricht ab
- Roger reagiert nicht auf meine Aufforderungen
- Roger macht die Hausaufgaben nicht
- Etc.
Was stört mich am meisten?
- Das Aufstehen und das Quatschen mit den anderen.
Sobald die Probleme schriftlich vor einem liegen, ist es deutlich leichter, nach Lösungen zu suchen:
Mindestens 15 Lösungen generieren
Frau Zahnd überlegt, dass sie bisher immer mit der gleichen Strategie auf die Probleme (Aufstehen und Quatschen) reagiert hat: Sie hat Roger ermahnt und ihm – wenn das nicht geholfen hat – einen Strich und schliesslich eine Strafaufgabe gegeben. Da Frau Zahnd eigentlich ein kreativer und schlauer Mensch ist, kommen ihr aber sehr viel mehr und auch bessere Lösungen in den Sinn, sobald sie sich hinsetzt, sich Zeit nimmt und sich vornimmt, mindestens 15 alternative Lösungsstrategien zu entwickeln. Es ist hilfreich, wenn Sie sich eine bestimmte, relativ grosse Zahl vornehmen. Auf 5 oder 6 Lösungen werden Sie leicht kommen – danach wird es schwieriger. Oft stösst man aber erst nach den ersten offensichtlichen Lösungen, die sich leicht aufschreiben lassen, auf interessante neue Ansätze – vielleicht auch im Gespräch mit anderen.
Frau Zahnds Lösungsansätze sahen wie folgt aus:
- Ich suche das Gespräch mit den Eltern von Roger
- Ich hole mir Unterstützung aus dem Lehrerteam
- Ich lese ein Buch zum Thema Unterrichtsstörungen und Classroom-Management
- Ich setze Roger einfach an den Platz, der am nächsten beim Wasserhahn ist, dann stört das Aufstehen die anderen weniger und er kann sich nicht mehr mit Jan und Peter unterhalten
- Ich setze alle Schüler jede zweite Woche per Zufall auf einen anderen Platz – so bilden sich weniger Cliquen, die den Unterricht stören
- Ich rede ernsthaft mit Roger, sage ihm, dass ich möchte, dass er sich im Unterricht wohl fühlt und frage ihn, was wir zusammen unternehmen könnten, damit es ihm besser gelingt, sich auf die Schule einzulassen
- Ich frage die Schulleitung, ob sie mir ein Unterrichtscoaching bezahlen würde, um diese Situation in den Griff zu bekommen
- Ich frage eine erfahrene Kollegin, ob sie sich ein oder zwei Mal zu mir reinsetzen könnte, um mir danach Tipps zu geben
- Ich frage unseren Schulpsychologen um Rat
- Ich gebe Roger ein kleines Amt (Tafelchef, Klassenbuch-Verwalter), das ihm eine Aufgabe gibt und wodurch ich ihn besser einbinden, ihm mehr Wertschätzung zeigen und eine andere Beziehung zu ihm aufbauen kann
- Ich besuche Roger und seine Eltern einmal bei ihnen zu Hause, um die Familie besser kennenzulernen
- Ich behalte Roger jeweils nach Schulschluss noch 5 Minuten im Klassenzimmer und sage ihm, was heute gut und was weniger gut lief
- Wenn sich Roger bemüht, schreibe ich eine kleine, positive Notiz für seine Eltern ins Hausaufgabenheft.
- Ich besuche an einem Sonntag ein Fussballspiel von Roger und feuere ihn an.
- Ich zeige mehr Interesse an den Hobbys von Roger, indem ich ihn darauf anspreche und ihn einen Vortrag darüber halten lasse
- Ich bitte Roger um einen Gefallen
- Ich frage Roger, was wir beide tun könnten, damit er lieber zur Schule kommt
Keiner dieser Ansätze wird garantiert funktionieren oder zu einer 100%igen Besserung führen. Aber jeder einzelne ist erfolgsversprechender als das, was bisher nie funktioniert hat.
Frau Zahnd kann sich nun überlegen, welche Lösungsmöglichkeiten sich am besten umsetzen liessen, am ehesten zu einer Verbesserung der Situation führen, ihr am meisten Spass bei der Umsetzung machen würden und für sie und Roger am schönsten wären.
Übung
Gibt es bei Ihnen Situationen, in denen Sie gerne konstruktiver und positiver reagieren möchten? Situationen, in denen Sie immer wieder von Gefühlen des Ärgers oder der Hilflosigkeit übermannt werden und dann auf eine Weise reagieren, die weder Ihnen noch Ihrem Kind gut tut? Falls ja, dann nehmen Sie sich ein Blatt und einen Stift (und vielleicht noch Ihren Partner/ Ihre Partnerin) und schreiben Sie sich auf:
- Wie Sie sich in dieser Situation fühlen und dass es so nicht weitergehen soll
- Was genau das Problem ist und was sie besonders stört
- 15 Wege durch die sich das Problem vielleicht vermindern oder lösen liesse
Wie unser Film mit dem kleinen Biber zeigt, sind auch Kinder in der Lage, bei der Lösungssuche mitzuhelfen und sich dadurch schon früh zu kleinen Problemlöse-Profis zu entwickeln:
Aktuelle Seminare für Eltern:
„Komm, das schaffst du!“ – Alltagshilfen für Kinder mit ADHS/ADS
Alltagshilfen für Kinder und Jugendliche mit Asperger / Autismus-Spektrum-Störung
Aktuelle Seminare für Lehrpersonen: