Mut lässt sich abschauen
Ängste entwickeln sich zu einem grossen Teil über Modelllernen. Wir Menschen, aber auch viele Tiere, sind so angelegt, dass wir relativ rasch Ängste von anderen übernehmen.
Dieser Mechanismus ist bei realen Gefahren äusserst wertvoll für unser Überleben. Stellen Sie sich dazu ein kleines Gnu vor. Es kann sich nicht von einem Löwen beissen lassen, um Ängste zu entwickeln. Es muss lernen, Angst vor Löwen zu haben, bevor es selbst eine negative Erfahrung mit diesem Raubtier macht. Wenn die Herde rennt, rennt es auch – und wenn es sieht, dass die Herde vor einem Löwen davonrennt, wird es Angst vor Löwen entwickeln. Das nächste Mal rennt es auch dann davon, wenn es das erste Tier der Herde ist, das den Löwen erblickt.
Wenn der Sohn also sieht, wie sein grosser, starker Vater kreischend vor einer Spinne flieht, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass er ebenfalls Ängste vor Spinnen entwickelt. Wenn die Mutter sich im sozialen Bereich grosse Sorgen macht und sich immer fragt, was andere von ihr denken, kann es sein, dass die Tochter diese Ängste ebenfalls entwickelt.
Wir können aber nicht nur Ängste von anderen Menschen lernen, wir können uns auch Mut von anderen abschauen.
Kinder lernen beispielsweise in Gruppen sehr schnell, Ängste zu überwinden. Dabei fordern sie sich gegenseitig dazu auf, sich der Angst zu stellen und dieser mutig zu begegnen. Schauen Sie das nächste Mal im Schwimmbad zu, wie Kinder lernen, vom Sprungbrett zu springen. Oft lässt sich beobachten, wie ein Kind, das sich bereits traut, einem anderen Kind vorzeigt, wie es springen muss, ihm Instruktionen gibt, es ermutigt und sich mit ihm freut, wenn es den Sprung ebenfalls gewagt hat.
Albert Bandura, der die Theorie des Modelllernens entwickelte, war einer der ersten, der Modelllernen auch als Therapiemethode einsetzte und untersuchte.
In einer seiner ersten Studien 1967 liess er Kinder mit einer Hundephobie jeden Tag während 20 Minuten einem anderen Kind dabei zuschauen, wie es ausgelassen und fröhlich mit einem Hund spielte. Bereits nach dem vierten Tag waren 67% der Kinder bereit, ebenfalls mit einem Hund zu spielen. Die Nachuntersuchung zeigte, dass die Angst dieser Kinder durch dieses Vorgehen dauerhaft verschwand.
In einer späteren Studie konnte Bandura sogar nachweisen, dass Filme, in denen andere Kinder mit Hunden spielen, ausreichen, um bei vielen Kindern Hundephobien zu therapieren. Er variierte das Vorgehen und konnte zeigen, dass Modelllernen besonders wirksam ist, wenn Kinder eine grössere Anzahl anderer Kinder beim Spiel mit Hunden beobachten konnten.
Aber nicht nur Hundephobien lassen sich auf diese Weise behandeln – auch sozialen Ängsten kann man damit zu Leibe rücken!
Der Psychologe Robert O’Connor zeigte 1969 sozial ängstlichen Kindern im Kindergartenalter einen 23 minütigen Film. Dieser zeigte 11 Szenen mit demselben Inhalt: Ein Kind sitzt im Kindergarten am Rand und beobachtet die anderen beim Spiel. Dann überwindet es sich und macht – zur Freude aller – beim Spiel mit. Die Wirkung war erstaunlich. Schüchterne Kinder, die den Film gesehen hatten, begannen zurück im Kindergarten sofort, sich aktiver zu beteiligen. Sechs Wochen später besuchte der Forscher die Kindergartenkinder erneut und durfte feststellen, dass diese Kinder nun genauso aktiv waren wie die anderen.
So nutzen Sie das Modelllernen, um Ihrem Kind die Angst zu nehmen!
Vielleicht haben Sie beim Lesen gedacht: „Mist! Mein Kind hat sich diese Angst von mir abgeschaut!“
Aber wussten Sie, dass Sie in diesem Fall auch das beste Modell für Ihr Kind sein könnten, um dieser Angst mutig zu begegnen? Kinder lernen deutlich besser von Modellen, die sich selbst überwinden müssen, als von solchen, für die alles kein Problem darstellt (in der Psychologie spricht man dabei von der Überlegenheit von „coping-models“ gegenüber „mastery-models“).
In meinem Buch „Psychologische Beratung und Coaching“ beschreibe ich ein Mut-Training, das eine ängstliche Mutter mit ihrem ebenfalls ängstlichen Sohn durchgeführt hat. Vielleicht können Sie etwas daraus mitnehmen:
Das Mut-Training
Tobias schaut sich seine Ängste von seiner Mutter ab
Tobias war zum Zeitpunkt der Beratung 9 Jahre alt und sehr ängstlich. Er fürchtete sich vor Hunden und Katzen, vor der Dunkelheit und reagierte ängstlich auf Trennungen von seiner Mutter. Vom Schwimmunterricht hatten ihn seine Eltern aufgrund seiner Ängste dispensieren lassen.
Bei der Beratung zeigte sich, dass Tobias Mutter ebenfalls ein sehr ängstlicher Mensch war. Auch sie vermied eine Vielzahl von Situationen und zeigte Tobias gegenüber ein sehr behütendes Erziehungsverhalten. Der Vater hatte sich mehr und mehr aus der Erziehung ausgeklinkt. Ihn störten die Ängste von Tobias, mehr aber noch das behütende Verhalten seiner Frau, die ihm immer wieder sagte, dass er zu wenig Verständnis habe und eben nicht wisse, wie es sei, wenn man Angst hat. Es wurde deutlich, dass die Mutter implizit glaubte, dass bestimmte Menschen einen „ängstlichen Charakter“ haben und es wichtig sei, die Kinder vor dem Gefühl der Angst zu schützen.
Dies führt jedoch dazu, dass Tobias kaum die Erfahrungen machen kann, dass Ängste überwunden werden können. Stattdessen lernt er von seiner Mutter, dass die Welt voller Gefahren und Bedrohungen ist und man ständig auf der Hut sein muss.
Einige Beispiele, die der Vater in der Beratung erzählte, illustrieren dies. So machte beispielsweise die ganze Familie am Sonntag vor der Beratung eine kleine Wanderung, wobei sie an einer Kuhweide vorbeikamen. Die Mutter ging einige Meter vor Tobias und dessen Vater, die sich über die Schule unterhielten. Der Vater nahm ein Grasbüschel und fütterte damit eine Kuh. Tobias schaute etwas ängstlich zu, wollte dann aber ebenfalls die Kuh füttern. Als er sich der Kuh näherte, eilte die Mutter auf ihn zu und riss ihn zurück. Zum Vater meinte sie zornig, dass man nie wisse, wie ein Tier reagiert. Ähnlich verhielte sich die Mutter nach den Schilderungen des Vaters auch bei Hunden und Katzen.
Welche Erfahrungen wären für Tobias hilfreich?
In der Beratung wurde mit den Eltern besprochen, dass Ängste zu einem grossen Teil gelernt werden und auch wieder verlernt werden können. Beide Eltern zeigten sich sehr interessiert und die Mutter meinte bei der Hälfte der Sitzung, dass ihre Eltern beide sehr ängstliche Menschen gewesen seien und sie sich vorstellen könne, dass ihre Ängstlichkeit ebenfalls auf diesem Weg entstanden sei. In der zweiten Hälfte der Sitzung wurde mit den Eltern vereinbart, dass zunächst im Rahmen der Beratung über die Eltern versucht würde, Tobias Ängste zu reduzieren, sie Tobias aber zu einer Verhaltenstherapeutin schicken würden, falls die Ängste zunehmen.
Danach wurde vereinbart, dass der Spaziergang bis zur nächsten Sitzung wiederholt würde und darauf geachtet wird, dass Tobias die folgenden Erfahrungen machen kann:
- Meine Mutter geht auf eine Kuh zu und füttert sie. Ich sehe, dass die Kuh meiner Mutter nichts tut und meine Mutter keine Angst vor der Kuh hat
- Meine Mutter ermutigt mich, die Kuh zu füttern und sagt mir, dass diese zwar gross, aber friedlich ist
- Ich darf die Kuh füttern und kann dabei erleben, dass die Kuh mir nichts tut
Das Vorgehen wurde mit den Eltern besprochen, worauf vereinbart wurde, dass zunächst der Vater die Kuh füttert und dann die Mutter auf die Kuh zugeht, sie füttert und am Kopf streichelt, bis sie das Gefühl hat, deren Verhalten richtig einschätzen zu können und dann Tobias in seinem Tempo dazukommen kann.
In der nächsten Sitzung schilderte die Mutter, dass es für sie eine schöne Erfahrung gewesen sei. Sie hätte zunächst ein mulmiges Gefühl gehabt, das aber nach kurzer Zeit verschwunden sei. Danach sei es auch in Ordnung gewesen, dass Tobias dazu kommt und sie hätte ihm auch Dinge sagen können wie „schau, sie ist ganz friedlich“, „sie ist neugierig…schau, sie hofft, dass du ihr einen Löwenzahn gibst“. Tobias meinte, dass er zunächst etwas Angst gehabt habe, dass die Kuh aber lieb war und es ihm Spass gemacht hat – voller Stolz erzählte er, dass „die Kuh eine mega raue Zunge hatte“.
Aufgrund dieses ersten Erfolgs waren die Eltern und Tobias bereit, sich auf ein „Mut-Training“ einzulassen. Die Mutter schlug vor, in der folgenden Woche mehrmals zusammen mit Tobias eine Bekannte zu besuchen, die einen Golden Retriever besitze, der sehr kinderlieb sei und bei dem sie ein gutes Gefühl hätte. Es wurde wieder besprochen, wie die Annäherung aussehen könnte und wie man auf einen Hund zugehen sollte (den Besitzer fragen, beschnuppern lassen, dem Hund Zeit geben etc.).
Nach einigen Mut-Trainings hatten die Ängste von Tobias stark nachgelassen und auch die Mutter meinte, dass sie gelernt hätte, nicht immer auf Ihre Ängste zu hören, sondern bestimmte, objektiv ungefährliche Dinge trotzdem zu tun und „ihr Leben mit mehr Mut zu leben“ – eine Therapie wurde nicht nötig.
Durch die neuen, positiven Erfahrungen konnten auch die Gedanken von Tobias und dessen Mutter nach und nach verändert werden. So wurde der Gedanke „Hunde sind gefährlich“ durch die konkreten Erfahrungen differenzierter und positiver und nahm eher die Form an „vor Hunden sollte man Respekt haben und sich ihnen vorsichtig nähern – aber die meisten sind friedlich und man kann viel Spass mit ihnen haben“. Es wurden aber auch allgemeinere Denkmuster verändert. So wurde beispielsweise das implizite Konzept der Mutter „einige Menschen haben einen ängstlichen Charakter und benötigen Schonung“ durch die Information und die vielen Erfahrungen, in denen die Angst überwunden werden konnte, ebenfalls verändert und nach und nach durch das Konzept „Ängste werden gelernt und können verlernt werden, indem man sich überwindet und sich ihnen stellt“ ersetzt.
Nutzen Sie die Kraft des Modelllernens für Ihr eigenes Mut-Training
Haben Sie Lust, selbst mit Ihrem Kind ein Mut-Training anzugehen? Wichtig ist, dass sie sich der Angst in kleinen Schritten stellen. Lesen Sie dazu auch den Artikel „Angst mit Mut begegnen„.
Nutzen Sie die Kraft positiver Modell. Besonders nützlich sind:
- Modelle, dies sich zuerst selbst überwinden müssen (die sogenannten Coping- bzw. Bewältigungs-Modelle).
- Mehrere Modelle (Wir erinnern uns: In den Studien von Bandura zeigte sich, dass eine Gruppe von Kindern, die mit Hunden spielt wirksamer ist, als ein einzelnes Modell-Kind).
- Modelle, die uns ähnlich sind (Wenn wir uns mit jemanden identifizieren, beobachten wir diese Person aufmerksamer und glauben auch eher, dass wir in der Lage sind, diese nachzuahmen).
- Modelle, die attraktiv sind (während uns ähnliche Modelle und Bewältigungs-Modelle das Gefühl geben, die Handlung ebenfalls lernen zu können, motivieren uns attraktive Modelle stärker. Aus diesem Grund nutzen wir beispielsweise das Idol unseres kleinen Bibers, um ihm zu vermitteln, wie man Misserfolge sportlich nehmen kann.)
Sie können sich selbst als Modell anbieten, einen anderen Erwachsenen oder ein Kind mit dieser Rolle beauftragen oder nach kleinen Helden in Filmen und Büchern Ausschau halten. Andere Kinder können Sie inbesondere bei Ängsten vor Tieren, Höhenangst und anderen spezifischen Phobien um Hilfe bitten. Diese müssen dazu nichts anderes tun, als sich im Umgang mit Spinnen, Hunden oder beim Klettern auf dem Gerüst beobachten zu lassen.
Kinder stärken: Erfahren Sie mehr über:
Unsere Weiterbildungstage für Fachpersonen
Unser Seminar „Resilienisch“ – ein Sprachkurs für innere Stärke (Resilienz in der Familie) für Eltern
Unser Buch „Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden“
Vielleicht ist ja auch unser kleiner Biber ein gutes Modell für Sie und Ihr Kind, wenn es um die Bewältigung von Ängsten geht:
Aktuell: Unser neues Buch „Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden“
Wir alle wünschen uns Kinder, die dem Leben mit Mut begegnen. Die mit Misserfolgen, Schwierigkeiten und Rückschlägen umzugehen wissen – resilient sind. Kinder, die ihre Stärken kennen und nutzen und ihre Schwächen akzeptieren.
Im Alltag bieten sich unzählige Möglichkeiten, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen von Kindern zu fördern.
Dieses Buch gibt eine Vielzahl von Impulsen, die Kindern zu innerer Stärke und Widerstandsfähigkeit verhelfen.